Liebe Aurelia
Sie greifen hier ein Thema auf, das wohl nicht leicht in den Griff zu bekommen ist und das nicht mit einfachen Rezepten ein für alle Male gelöst werden kann. Abschreiben und Kopieren soll ja sogar in tertiären Studiengängen ab und zu vorkommen – mit drastischen Konsequenzen, wenn der Betrug auffliegt. Sie werfen die Frage nach Selbständigkeit, Vertrauen, Gewissen und Betrug auf und es macht Sinn, wenn man sich der Thematik auch auf dieser übergeordneten Ebene annähert.
Ich verstehe gut, dass Sie sich gerade in der Phase der Selektion vermehrt unter Druck fühlen. Sie beschreiben selber, wie Sie reagiert haben und diese Reaktionen haben ja schon Erfolg gezeigt („Wiederholungstäter" gab es bis jetzt keine.“). Sie sind damit auf dem richtigen Weg – nämlich auf die Einsicht der Betroffenen zu setzen und die Gruppe als Ganzes einzubeziehen. Vielleicht haben Ihre Schülerinnen und Schüler in diesen Gesprächen auch über den Stress und die Ablenkung durch den Spicker und die Angst vor der Entdeckung gesprochen, so dass sie sich gar nicht mehr richtig auf die eigentliche Arbeit konzentrieren konnten.
Ich finde es auch sehr gut, dass Sie auf die jeweilige Arbeit schreiben, was passiert ist und so auch die Eltern informieren. Wie wäre es, wenn die Schülerin oder der Schüler dies selber machen müsste, so hätten sie sich entlastet und gleichzeitig auch die Sicht des bzw. der Betroffenen zur Verfügung. Zudem hat der „Täter“ oder die „Täterin“ verdientermassen den Mehraufwand und nicht Sie. Es bleibt Ihnen ja dann immer noch die Möglichkeit zu ergänzen oder aus Ihrer Sicht zu berichtigen.
Nun zu Ihren konkreten Fragen:
Ich finde es wichtig, dass die Konsequenzen schon vor der Prüfung klar sind und Sie nicht aus dem Moment reagieren müssen. Ich habe gute Erfahrungen gemacht, diese Konsequenzen in einem Klassenrat von der Klasse aufstellen und verabschieden zu lassen. Dies gibt eine vertiefte Auseinandersetzung mit der Thematik für die Klasse, Einsichten in die Denkweise und die Meinungen der Schülerinnen und Schüler und vor allem ist die Akzeptanz bei der Umsetzung der Sanktion viel grösser, wenn man bei der Erarbeitung auch dabei gewesen ist. Ich bin immer wieder erstaunt, zu welch kreativen und effizienten Ideen die Schülerinnen und Schüler kommen, wenn sie in die Verantwortung einbezogen werden.
Ohne Zweifel ist es wichtig, getroffene Abmachungen bzw. Forderungen dann konsequent einzufordern.
Ich kann mir auch vorstellen, dass es Sinn macht, sich mit den Kolleginnen und Kollegen im Schulhaus abzusprechen und die Regelungen aus den unteren Klassen, also die bisherigen Erfahrungen der Schülerinnen und Schüler, zu übernehmen. Was hat sich bewährt? Diese Kontinuität gibt auch Sicherheit gegenüber aussen.
Die Frage, ob eine Auswirkung auf die Beurteilung erfolgen darf, kann ohne Kenntnis des Kontextes nicht beantwortet werden. Mit welcher Begründung wird ein entsprechendes Vorgehen gewählt? Auf alle Fälle würde ich mich bei der Schulleitung absichern und das Vorgehen bestätigen lassen. Zudem lohnen sich wohl Überlegungen, wie die Eltern informiert werden.
Wenn Sie das Beurteilungsmosaik anwenden, sind Lernkontrollen ja nur ein Teil der Gesamtbeurteilung. Dies führt mich zur Überlegung, Beurteilungssituationen so zu planen, dass reine Wissensabfragen minimiert werden und so entsprechend auch die Versuchung zum Spicken. Man könnte also auch Gruppenarbeit bewerten, in der Zusammenarbeit ja explizit gefordert wird. Wenn Kinder lernen, was sie zu einer Arbeit beigetragen haben und wo sie auf das Wissen und Können anderer gebaut haben, wird ein wichtiger Schritt zur Selbständigkeit getan.
Ihr Beitrag hat bei mir noch ein paar weitere Fragen und Gedanken ausgelöst und da Sie ja nach weiteren Erfahrungen und Ideen gefragt haben, erlaube ich mir, diese im Sinne eines Brainstormings anzufügen. Dies in der Hoffnung, dass diese Gedanken weitere Reaktionen bei den Teilnehmenden des Forums hervorrufen. Insofern bin auch ich sehr gespannt auf weitere Erfahrungen und Ideen.
Umdeutung, Perspektivenwechsel: Was ist das Gute am Spicken? Zeigt sich da nicht auch Interesse, etwas besser zu machen, es aber noch nicht zu können? Wie lässt sich diese Energie positiv nutzen?
Spicken mal erlauben, bzw. verlangen: Jedes Kind hat die Erlaubnis (oder den Auftrag) auf einem abgegebenen kleinen Zettel so viele Notizen zu schreiben, wie es will und diese dann während dem Test zu verwenden. Nach der Lernkontrolle werden die Notizzettel gemeinsam auf ihre Qualität und Nützlichkeit untersucht. Man könnte sogar so weit gehen, selbst den Spicker dann zu qualifizieren.
Diese Idee hatte in meinen Klassen den Effekt, dass sich die Kinder teilweise intensiver auf die Lernkontrollen vorbereitet haben, dass sie nachher sagten, sie hätten den Spicker gar nicht gebraucht, weil sie alles darauf noch wussten. Das könnte dann der Aufhänger für eine Klassendiskussion über das Thema „was gibt mir Sicherheit“ geben. So kann das Thema „Spicken“ sogar produktiv fürs Lernen eingesetzt werden.
Rollentausch: Die Schülerinnen und Schüler verfassen die Lernkontrolle selber und führen sie mit einer Gruppe eigenverantwortlich durch. Wie gehen sie mit dem Problem um, taucht es überhaupt auf? Was lernen die Kinder und wie belegen sie damit auch ihr Verständnis vom Stoff (dem eigentlichen Sinn der Lernkontrolle)?
Eine weitere Frage bleibt auch für mich noch offen: Was passiert mit „Spickenden“, die erfolgreich sind, die nicht erwischt werden und dadurch eine bessere Note erhalten ohne, dass ich es als Lehrperson merke. Ist es richtig, dass sie für ihre Cleverness oder Geschicklichkeit belohnt werden?
Dieses Problem lässt sich nur moralisch beantworten, womit ich wieder am Anfang meiner Antwort angelangt bin. Erziehung zur Mündigkeit heisst wohl auch, sich mit Selbständigkeit, Vertrauen, Gewissen und Betrug auseinanderzusetzen - und an der persönlichen Einsicht und Haltung zu arbeiten.
Ich wünsche Ihnen und Ihren Schülerinnen und Schülern viel Erfolg.
Mit freundlichen Grüssen
mars