Liebe Deutschlehrperson (aus der Praxis)
Lass mich deine Ausführungen einleitend mit eigenen Worten zusammenfassen: Du hast von der zuständigen Klassenlehrperson den Auftrag erhalten, die von dir unterrichtete 5./6. Klasse zwei Aufsätze pro Quartal schreiben zu lassen und bei den Produkten sämtliche grammatikalischen und orthographischen Fehler anzustreichen. Da dir dieses defizitorientierte Vorgehen wenig entspricht, stehst du nun im Clinch zwischen Auftrag und persönlicher Überzeugung und fragst, wie du reagieren sollst. Weiter bittest du um Tipps zur Beurteilung von Aufsätzen.
Mit dem Themenkomplex „Aufsätze korrigieren“ sprichst du einen zentralen Aufgabenbereich von Lehrpersonen an. Dieser wirft viele Fragen auf, welche selbst erfahrene Lehrpersonen und Fachdidaktiker(innen) nicht einhellig beantworten können. Eng mit dem Thema der Aufsatzkorrektur verbunden ist das Thema des „Schreibens“ generell. Ich möchte die zweite deiner Fragen herausgreifen: Tipps zur Beurteilung von Aufsätzen.
Die neuere Schreibdidaktik sieht Schreiben als mehrphasigen Prozess – bestehend aus Themenfindung, Textentwurf, Überarbeitung –, zu welchem die Lernenden explizit angeleitet werden sollen. Anders als es viele von uns noch selber erlebt haben und es noch immer praktiziert wird, ist es aus heutiger fachdidaktischer Sicht wenig sinnvoll, die Lernenden einen Aufsatz am Stück, also ohne zeitliche Unterbrechung, von Anfang bis Ende schreiben zu lassen.
Dabei sollte vor allem der Phase der Überarbeitung mehr Raum zugestanden werden. Die Lernenden sollen die Möglichkeit erhalten, einen Text aus der Hand zu legen, Abstand davon zu nehmen, um dann erneut an diesem zu arbeiten und zu feilen. Das schliesst die Inanspruchnahme von fremder Hilfe mit ein. Das Stichwort lautet: „Partner Feedback“. Die Partner sind die Mitschülerinnen und Mitschüler, welche ihre Textentwürfe gegenseitig austauschen und lesen und einander danach mitteilen, was sie daran gut finden bzw. was überarbeitet werden müsste. Der Rotstift der Lehrperson kommt erst zum Zug, nachdem die Lernenden ihre Texte unter Zuhilfenahme von Duden, Rechtschreibprogrammen und Berücksichtigung von Partner Feedbacks überarbeitet haben. Ich füge das Schema des Schreibprozesses (nach Gerd Bräuer) bei.
Zurück zu deiner Frage: Wenn Schreiben als Prozess betrachtet und entsprechend betrieben wird, ist es aus meiner Sicht zu rechtfertigen, das Endprodukt auch in Bezug auf Grammatik und Rechtschreibung streng zu beurteilen. Grundsätzlich teile ich aber deine Einstellung, dass man nicht primär die Löcher im Käse (also die Fehler), sondern das gute Drumherum sehen und betonen sollte.
Was hältst du davon, das Schreibprozessmodell (Attachment) der Klassenlehrperson vorzulegen und mit dieser zu diskutieren?
Freundliche Grüsse
Sandmann