Schülerin manipuliert wegen enormem Leistungsdruck

Ich unterrichte Mathematik an einer 6. Klasse. In dieser Klasse ist eine Schülerin, die sehr fleissig ist und sehr gute Leistungen zeigt. Vereinzelt kommt es dennoch vor, dass eine Lernzielkontrolle „nur“ gut, aber nicht sehr gut ausfällt. Das ändert aus meiner Sicht nichts daran, dass ich die Leistungen der Schülerin am Ende des Schuljahres mit sehr gut bewerten möchte.

Letzte Woche habe ich eine Lernzielkontrolle zurückgegeben, in der die Schülerin eine Fünf erzielt hat. Sie war damit unzufrieden, hat von mir als fehlerhaft gekennzeichnete Lösungen ausradiert und überschrieben und dann von mir verlangt, dass ich wegen falscher Korrektur ihre Note auf Sechs anhebe. Ich war mir aber ganz sicher, dass die Ergebnisse ursprünglich falsch waren.

In einem sehr vertrauensvollen Gespräch mit dem Schulleiter hat die Schülerin dann unter Tränen zugegeben, dass sie manipuliert hat. Sie hat sich bei mir entschuldigt und uns anvertraut, dass ihre Eltern sie dermassen unter Leistungsdruck setzen, dass sie bereits für eine Fünf negative Konsequenzen zu spüren bekommt. Andererseits gebe es für Sechsen Geschenke zur Belohnung.

Wie die negativen Konsequenzen aussehen, wollte die Schülerin nicht sagen. Ich nehme nicht an, dass sie geschlagen wird, aber tippe auf psychische Gewalt und Strafen wie Fernsehverbot und Handyentzug. Der Schulleiter hat mit der Schülerin vereinbart, dass sie sich überlegt, welche Hilfe unsererseits sie bräuchte, um mit ihren Eltern darüber zu reden, dass sie diesen Druck nicht erträgt.

Ich habe Angst, dass die Schülerin unter diesem Druck zerbricht. Dazu kommt, dass beim Übertrittsgespräch andeutungsweise herauszuhören war, dass sie bereits jetzt als knapp Zwölfjährige in ihrer Familie Aufgaben übernimmt, für die eigentlich die Eltern zuständig sind (regelmässiges Zubereiten von Mahlzeiten z. B.).

Wir haben der Schülerin Vertraulichkeit zugesagt und auf die Schulsozialarbeit hingewiesen. Aber ich möchte das nicht auf sich beruhen lassen, denn wenn elterlicher Druck dazu führt, dass die Schülerin die Lernzielkontrolle im Nachhinein manipulieren muss, finde ich das schon ziemlich dramatisch.

Gibt es irgendwelche Ratschläge, wie wir weiter verfahren können, um der Schülerin aus dieser belastenden Situation herauszuhelfen? Vielen Dank im Voraus!

Lieber Katerfilou

Herzlichen Dank für Ihre Schilderungen. Eindrücklich, wie Sie erkannt haben, dass die Manipulation nicht bösartig gegen Sie gerichtet war, sondern dass sich dieses Handeln ihr in den Dienst des Schutzes vor möglichen privaten Konsequenzen gestellt hat. Gut, dass das Mädchen ihre Not ein erstes Mal deponieren durfte.

Ich erachte es als sinnvoll, wenn die zwei Themen – Leistungsdruck und Mithilfe – getrennt angegangen werden. In der Art und der Menge der familiären Mithilfe gibt es einen grossen Ermessensspielraum, was genau zur Selbständigkeit und Verantwortungsübernahme beitragen kann und wo die Grenze der Ausbeutung, des Ungesunden überschritten wird. Um das beurteilen zu können, entnehme ich Ihren Schilderungen zu wenig Informationen.

Ein Einbezug der Schulleitung in der jetzigen Situation bedeutet eine erhöhte Dringlichkeit und könnte die Eltern in eine defensive Haltung drängen. Deshalb liegt im Moment die Handlungsverantwortung in Bezug auf den Leistungsdruck bei Ihnen. Fragen Sie das Mädchen, ob sie einverstanden wäre, dass Sie in einem Gespräch mit der Schülerin den Eltern erzählen würden, was Sie vom Mädchen erfahren haben.

Falls sie das so nicht will, würde ich folgenden Schritt vorschlagen: Rufen Sie zu Hause an. Gehen Sie dabei achtsam vor:

  • Fragen Sie zu Beginn, ob die Mutter/der Vater einen Moment Zeit habe.

  • Führen Sie ins Gespräch, indem Sie eröffnen, dass Sie eine unangenehme Beobachtung mitteilen möchten, die sie beschäftigen würde.

  • Schildern Sie das Vorgefallene sachlich und erwähnen, dass Sie sehr erstaunt über dieses Verhalten seien, da Sie das Mädchen ganz anders einschätzen.

  • Sagen Sie, dass Sie sich überlegt hätten, ob allenfalls von Seiten der Eltern eine hohe Leistungserwartung bestehen würde oder ob das Mädchen grundsätzlich sehr ehrgeizig sei. Dabei müssen Sie nicht offen legen, dass Sie mehr wissen.

  • Falls die Eltern erklären, dass sie durchaus hohe Leistungen erwarten, könnte darüber offen gesprochen werden. Falls sie dies aber entschieden ablehnen, würde ich nicht insistieren. Im Gegenteil, ich würde sogar sagen, dass Sie froh seien, das zu hören, weil Leistungsdruck definitiv bei ihrer Tochter ungesund wäre. Und damit haben die Eltern so oder so die Botschaft gehört.

  • Bleiben Sie im Gespräch mit dem Mädchen. Fragen Sie nach, ob die Eltern zu Hause eine Reaktion gezeigt haben. Sollte sich die Situation verschlimmern, könnte es an der Zeit sein, die Schulleitung einzuschalten oder eng mit der Schulsozialarbeit zusammenzuarbeiten.

Vielleicht ist es sogar hilfreich für dieses anspruchsvolle Gespräch, wenn Sie sich die Sätze, die Sie sagen wollen, aufschreiben und vor sich haben werden.

Nun wünsche ich Ihnen gutes Gelingen in der Unterstützung der Schülerin.

Mit herzlichen Grüssen

Kashgar

Guten Tag Kashgar

Besten Dank für Ihre ausführliche Antwort! Ich habe dazu noch folgendes zu sagen:

Die Schülerin hat nicht zum ersten Mal geäussert, dass sie sich durch ihre Eltern unter Leistungsdruck gesetzt fühlt. Bereits bei der Rückgabe einer früheren Lernzielkontrolle gab es Tränen, weil das Resultat nicht sehr gut war. Bei einem Vieraugengespräch hat das Mädchen mir gesagt, dass ihre Eltern so streng seien und dass sie Konsequenzen zu erwarten habe, wenn sie nicht mindestens eine Fünfeinhalb vorweisen kann. Es war der Schülerin sehr wichtig, dass alles unter uns bleibt; sie wünschte ausdrücklich, dass wir nicht mit den Eltern in Kontakt treten.

Daraufhin hatte ich ein Gespräch mit der Schulsozialarbeiterin. Sie hat empfohlen, mit den Eltern beim Übertrittsgespräch zu thematisieren, dass ihre Tochter enttäuscht reagiert, wenn sie keine sehr gute Note erzielt hat. Wir sollten die Eltern fragen, wie sie mit dieser Enttäuschung umgehen und wie es für sie wäre, wenn ihre Tochter keine Sechs oder Fünfeinhalb bei Lernzielkontrollen geschafft hat.

Die Eltern haben bestätigt, dass die Schülerin einen enorm hohen Anspruch an sich selbst stellt, zeigten aber ihrerseits nicht, dass sie dies von ihrer Tochter erwarten. Sie haben also nicht geäussert, dass sie selbst so hohe Erwartungen stellen. Ich habe den Verdacht, dass die Eltern uns etwas verschweigen, denn die Schülerin hat mir resp. dem Schulleiter in beiden Gesprächen mitgeteilt, dass ihre Eltern ihr verboten hätten, mit anderen Personen über ihre Reaktionen auf die Bewertung von Lernzielkontrollen zu reden.

Dass ich beim letzten Vorfall die Schulleitung einbezogen habe, beruht darauf, dass der erste Schritt, den Sie vorgeschlagen haben, im Grunde genommen schon erfolgt ist. Ausserdem meine ich, dass die Manipulation der letzten Lernzielkontrolle deutlich aufzeigt, dass wir Lehrpersonen hinschauen und handeln müssen, um dem Mädchen im Rahmen unsrer Möglichkeiten zu helfen. Die „erhöhte Dringlichkeit“ ist daher aus meiner Sicht nun gegeben.

Ihre vorgeschlagenen Handlungsschritte sind ganz sicher eine gute Unterstützung für ein Gespräch mit den Eltern. Ich werde diese mit der Schulleitung besprechen und dann gemeinsam überlegen, wie es weitergehen kann.

Freundliche Grüsse und nochmals vielen Dank für Ihre Bemühungen
Katerfilou

Guten Tag Katerfilou

Herzlichen Dank für Ihre Ergänzungen. Trotz ihrem äusserst professionellen Vorgehen sind Sie noch nicht an den Punkt gelangt, dass dem Mädchen geholfen werden kann. Dies auszuhalten ist nicht einfach.

Wenn nicht viele weitere Anzeichen bestehen, ist es wohl auch noch zu früh für eine Gefährdungsmeldung. Was nun?

Leider weigert sich das Mädchen im Moment noch, ihre Aussagen vor den Eltern transparent zu machen. Vermutlich ist diese Weigerung ein Selbstschutz und soll im jetzigen Zeitpunkt unbedingt gewürdigt werden. Und doch würde ich noch nicht aufgeben.

Als nächster Schritt könnte ein weiteres Gespräch mit den Eltern und der Tochter einberufen werden, wobei die Tochter über folgende Inhalte vorher informiert werden soll. Ob die Schulleitung dabei sein wird, können Sie entscheiden.
Zeigen Sie den Eltern erneut Ihre Sorgen auf und nehmen Sie die Aussagen der Eltern ernst – auch wenn Sie diese vermutlich berechtigterweise anzweifeln. Da offenbar kein Druck seitens der Eltern ausgeübt werde, müsse jetzt dem Mädchen geholfen werden. Denn ihr Ehrgeiz sei weit über dem gesunden Mass anzusiedeln und verleite sie zu Verhaltensweisen, die nicht tolerierbar seien. Deshalb empfehlen Sie als Lehrperson, die Schulsozialarbeit, die EB oder einen jugendpsychologischen Dienst in Anspruch zu nehmen. Falls die Eltern eine solche Unterstützung ablehnen, fragen Sie nach, was Sie daran hindern würde, Ihrer Tochter auf diese Weise eine Hilfe anzubieten.

Nun drücke ich Ihnen die Daumen, dass Sie etwas in Bewegung bringen können.

Gerne sind wir Beratungspersonen auch bereit, mit Ihnen im Gespräch die Situation genauer anzuschauen.

Mit freundlichen Grüssen

Gerhard Stähli

Lieber Katerfilou
Kritische Gedanken: Art 11: Bundesverfassung: Kinder und Jugendliche haben Anspruch auf besonderen Schutz ihrer Unversehrtheit und auf Förderung ihrer Entwicklung. Es ist an der Zeit, dass sich die öffentliche Schule an die Bundesverfassung hält. Selektive Übergänge und Notengebung führen immer wieder zu unrechtmässigen Übergriffen und Verletzungen von Jugendlichen. Eine Schule für alle ohne Selektion mit Kompetenzraster nach LP21 sind möglich.
Hier muss die öffentliche Schule dringend aufholen. Bevor Erwachsene nicht mehr bereit sind, unter solchen Umständen zu arbeiten. Die Schule trägt die Verantwortung für die Gesundheit der Kinder.