So, jetzt ist sie serviert, die Cremeschnitte aus dem „Patisserie-Haus Passepartout“! Landauf landab knabbern Kinder der Grenzkantone jetzt an ihren Cremeschnitten - will sagen lernen Französisch mit dem neuen Lehrmittel „Mille feuilles“.
Die Medien waren bisher noch recht zurückhaltend. Ein Artikel des Bieler Tagblatts vom 9.11.11 geht jedoch hart ins Gericht mit dem neuen Lehrmittel: Mille feuilles sei vergleichbar mit dem umstrittenen, neuen Frühenglischlehrmittel aus Zürich. Bei dem im Artikel zitierten Lehrer und Schulblogger Urs Kalberer www.schuleschweiz.blogspot.com/ kommt das Lehrmittel sehr schlecht weg! Hier ist der Artikel als pdf abgelegt, weil er bei der Zeitung online nur mit Abo lesbar wäre: http://www.oszt.ch/pdf/BT_millefeuille_91111.pdf
Wie sind die Erfahrungen der Lehrpersonen vom Forum, die jetzt mit Mille feuilles unterrichten?
Gibt es Experten der PHBern, die sich hier zu den Vorwürfen vom Zeitungsartikel oder zu den ersten gemachten Praxis-Erfahrungen äussern würden?
Wir haben den Artikel auch gelesen. Das IWB hat den Auftrag, Lehrpersonen möglichst gut auf den Unterricht mit mille feuilles vorzubereiten. Wir stellen fest, dass
die Entwicklung des Lehrmittels dem Lehrplan Passepartout entspricht
den Interessen und Bedürfnissen der Schülerinnen und Schüler Rechnung getragen wird
im Lehrmittel mille feuilles die neueren Erkenntnisse zum Fremdsprachenerwerb sorgfältig eingearbeitet sind
Lehrpersonen das Lehrmittel ausprobiert haben und Rückmeldungen an den Verlag geben konnten, welche in die Überarbeitung eingeflossen sind.
Herr Kalberer spricht in seinem Artikel verschiedene Ebenen an, die bildungspolitische Ebene und die fachliche Ebene der
Sprachvermittlung. Auf der bildungspolitischen Ebene können und wollen wir als Experten nicht intervenieren, auf der fachlichen Ebene bräuchte es eine differenzierte Diskussion, die über eine Kritik an Neuerungen hinausführen müsste.
Das Bieler Tagblatt hat am 21. September ein Interview abgedruckt mit Dieter Wolff, einem deutschen Professor, der bei der Entwickling von „Mille feuilles“ mitgearbeitet hat. Sehr interessant!
Ich leg’s wieder auf unseren Schulserver, weil das BT-Archiv Beschränkungen hat:
Bonjour,
Ich habe nun sechs Wochen mit dem neuen Mille Feuilles unterrichtet.
Als mehrsprachige Frau, langjährige Französisch Lehrerin (auch als Privatlehrerin mit SuS von 7 bis 50 Jahren) habe ich den Passepartout Lehrplan sehr begrüsst. Endlich geht es um Sprachkompetenzen! Das Lehrmittel finde ich sehr gut und meine Schülerinnen und Schüler der 3. Klasse sprechen sehr gut darauf an und zeigen viel Interesse und Spass. Sehr interessant für mich ist auch der direkte Vergleich mit den Fünftklässlern und Bonne Chance (dort bin ich KL). Die Weiterbildung habe ich sehr genossen und viel Interessantes gelernt.
Und dennoch drückt mich der Schuh ziemlich:
Dass wir die definitive Version vom Mille Feuilles erst kurz vor den Sommerferien bekommen haben, war absolut unbefridiegend. Vieles, was wir an Vorbereitungsarbeiten während dem Kurs gemacht hatten, musste vollständig überarbeitet werden. Dass dann plötzlich noch eine Revue dazu kommt, fand ich sehr bemühend. Auch der Punkt Beurteilung ist für mich noch nicht klar. Für mich riecht das Ganze ein bisschen nach „noch nicht ganz fertig“. Meiner Meinung nach sollte eine solche Projektplanung an unseren Schulen nicht vorkommen. Zumindest wäre so etwas in der Privatwirtschaft undenkbar.
Bei uns stimmt die Infrastruktur noch nicht. Wenn schon mit CD-Rom und CD gearbeitet werden soll, so sollte auch dieser Punkt und insbesondere die Finanzierung vor Projektumsetzung geklärt sein.
Gruppengrösse: ich muss mit 18 Kindern (und 2 Computern) arbeiten. Bei einer solch grossen Gruppengrösse fällt sehr Vieles weg - die Kinder haben viel weniger die Möglichkeit zu sprechen, selbständiges Arbeiten an Stationen wird zur organisatorischen Herausforderung und ist z.T. gar nicht mehr möglich, Differenzieren, Individualisieren, Coachen kommen viel zu kurz. Hier hätte ich klare Richtlinien gewünscht. Im Vergleich mit anderen Schulhäusern (ja, wir haben auch die einzelnen Situationen verglichen) haben wir festgestellt, dass die Bewilligung der Gruppengrössen v.a. vom Wohlwollen des Inspektorats abhängt und sehr unterschiedlich gehandhabt wird. Das dürfte einfach nicht sein… Chancengleichheit sollte nicht nur für die Kinder ein Thema sein, sondern auch für uns Lehrpersonen!
Viele Schulen haben in Folge der Sparmassnahmen zu Mehrjahrgangsklassen gewechselt. Kann mir jemand erklären, wie Mille Feuille und wahrscheinlich später auch das Englisch Lehrmittel in MJK unterrichtet werden soll? Ich habe über zehn Jahre vier-stufig unterrichtet und weiss genau, wovon ich spreche. Auch hier wünsche ich mir klare Richtlinien und hoffe sehr, dass von oben Unterstützung im Sinne der LP’s und schlussendlich auch der Kinder und nicht der Sparmassnahmen kommen wird.
Kinder mit Lernschwierigkeiten sind mit Mille Feuilles oft überfordert und brauchen sehr viel Unterstützung. Dazu würde ich mir Unterrichts - Hilfen wünschen (wie z.Bsp. in den „Sprachstarken“. Und auch bei diesem Punkt erschweren grosse Gruppen und allfällige MJK die Arbeit.
Wir haben uns in der Weiterbildung eingehend mit dem Thema „Guter Unterricht“ auseinandergesetzt. Unter den gegebenen Umständen kann ich aber diese Qualitäts-Merkmale gar nicht erreichen und das ist absolut frustrierend.
Auch in der Schule tritt das Schlagwort „Qualitätssicherung“ immer mehr auf. Wenn Qualität im zukünftigen Fremdsprachenunterricht angestrebt werden soll, dann müsste sich noch Einiges ändern.
Liebe D_Mueller
Vielen Dank für Ihre ausführlichen Rückmeldungen - Rückmeldungen, welche für jedes Reformprojekt von grosser Wichtigkeit sind. Von verschiedenen Seiten wurden uns ähnliche Schwierigkeiten gemeldet. Wir versuchen jeweils, diese den zuständigen Instanzen weiterzuleiten, weil wir als Weiterbildungsinstitution diese Probleme nicht direkt lösen können.
Chronologisch zu Ihren Anliegen: Die Produktion von Lehrmitteln bedeutet heutzutage ein langer, rollend geplanter Prozess, d.h. dass nach der Erprobungsphase in Pilotklassen alle Kritiken und Rückmeldungen in eine Überarbeitung fliessen. Dies tut der Schulverlag regelmässig und mit grossem Entgegenkommen (was nicht bei allen Verlagen der Fall ist!) - das erklärt die Veränderungen der MF-Versionen. Dass diese Erprobungen von Lehrmitteln nicht in allzu grossem zeitlichen Abstand zur Implementierung erfolgen können, liegt auf der Hand, das hat dazu geführt, dass die ersten Kurse mit provisorischen Versionen durchgeführt werden mussten.
Zur Anzahl Computer in Ihrem Klassenzimmer: Pragmatisch empfehle ich Ihnen, jedes Jahr 1, 2 in Ihrer Schule zu beantragen. Sie können sich auf die Empfehlung von Passepartout und der ERZ berufen, welche 3 Computer als Minimalzahl für eine gute Durchführung von MF vorsieht.
Zum Problem der MJK: Wir unterstützen Sie in der Meinung, dass MJK nicht Sparmassnahmen sein dürfen, sondern als pädagogisch die Kinder förderndes Konzept gedacht werden müssen. In dieser Richtung muss uns auch die Didaktik noch mehr praktischen Support bieten. Versuchen Sie mit Ihrer Schulleitung alle organisatorisch möglichen Massnahmen (Klassenzusammensetzung, Stundenplan, Unterstützungslektionen ecc.) auszuloten.
Unterstützungshilfen (mit heilpädagogischem Ansatz) für Kinder mit Lernschwierigkeiten sind vom Verlag vorgesehen; allerdings kann ich Ihnen nicht genau sagen, wann diese Materialien auf dem Markt erhältlich sein werden.
Sie werden sehen, dass die Schwierigkeiten, welche sich in einer ersten Phase bei jeder Lehrmittelimplementierung stellen, in absehbarer Zeit verschwinden werden.
Es wäre für diese Plattform interessant, von anderen Lehrpersonen auch Erfahrungsberichte zum Umgang mit Mille feuilles zu hören, eventuell können diese Ihnen auch gute Tipps geben !
Die Diskussionen rund um das neue Lehrmittel „Milles feuilles“ werden wohl weitergehen. Interessant ist vielleicht zu wissen, dass es neuerdings Ergänzungsmaterialien zum Lehrmittel gibt (Hinweis im E-Newslewtter der PHBern für Schule und Unterricht http://www.phbern.ch/dienstleistungen/bildungsmedien/mediothek/herausgepickt.html
Lang ist es her, als dieses Thema hier aktuell war. Nun erhebt es sich aus seinem Grab, denn jetzt lässt sogar die neue Bildungsdirektorin Christine Häsler die heisse Passepartout-Kartoffel fallen! Und gemäss der „Berner Zeitung“ und dem „Bieler Tagblatt“ vom 27.12.19 sind ihre Verteidiger verstummt.
Gibt es Experten von der PH, welche sich hier im Forum zu diesem Thema äussern würden?
Ausschnitte Bieler Tagblatt vom 27.12.19. Ganzer Artikel siehe Link oben. Titel: Die Verteidiger sind verstummt *
Projektverantwortliche und Regierungsräte, die «Mille feuilles» 2011 lanciert haben, sind nicht mehr im Amt und schweigen zur Kritik am Lehrmittel. Auch der Schulverlag Plus hält sich zurück. (…)
Der Eindruck, «Mille feuilles» habe überhaupt keine Fürsprecher mehr, hat aber auch damit zu tun, dass die verantwortlichen Entwickler, Verteidiger und Herausgeber förmlich verstummt sind. Bis 2018 war Reto Furter Projektleiter für das Lehrmittel im Kantonsverbund «Passepartout», der «Mille feuilles» ab 2011 (…) einführte. Heute ist Furter Verantwortlicher für die Bereiche obligatorische Schule, Kultur und Sport bei der Erziehungsdirektorenkonferenz. Auf Anfrage erklärt er, er wolle sich in seiner neuen Funktion nicht mehr zum Lehrmittel äussern. (…) An Support mangelt es dem Lehrmittel auch deshalb, weil die bei seiner Lancierung verantwortlichen Bildungsdirektoren zum Teil nicht mehr im Amt sind. Im Kanton Bern war das Bernhard Pulver (Grüne). Er verteidigte «Mille feuilles» und plädierte für Geduld, bis es sich etabliert habe. Als Alt-Regierungsrat will er heute zu aktuellen politischen Debatten nicht mehr Stellung nehmen. Pulvers Nachfolgerin Christine Häsler kann die Kritik an «Mille feuilles» unbeschwerter analysieren und offener über Alternativlehrmittel nachdenken. (…) Zurückhaltend gibt sich auch der Schulverlag Plus mit Sitz in Bern, der das Lehrmittel herausgibt. (…) Verwaltungsratspräsidentin Irene Frei teilte auf eine erste Anfrage dieser Zeitung mit, man nehme zu den politischen Entwicklungen rund um «Mille feuilles» nicht Stellung. Das tönt so, als liege die Kommunikationshoheit bei der Politik. Erziehungsdirektorin Christine Häsler versichert allerdings, der Schulverlag Plus sei frei, «wie, wann und wo er sich zu ‹Mille feuilles› äussern» wolle. (…) Die Herausgeber von «Mille feuilles» können sich auch nicht in der von Christine Häsler einberufenen Arbeitsgruppe für ihr Lehrmittel wehren. Im Gremium, das die Vorwürfe untersucht, ist der Schulverlag Plus nämlich nicht vertreten, obwohl er über wichtiges Know-how verfügen würde. Erziehungsdirektorin Häsler erwidert, die Vertreterin der Erziehungsdirektion im Verwaltungsrat des Verlags könne wichtige Informationen weitergeben. Und sie fügt an: «Selbstverständlich holen wir das Expertenwissen des Schulverlags ab und beziehen es in unsere Überlegungen ein.»
*
Vielen Dank für deinen Beitrag, aus dem Besorgnis über die aktuelle Situation zu spüren ist. Du bittest uns PH-Fachpersonen um eine Äusserung bzw. Stellungnahme:
Soweit wir als „Expertinnen und Experten der PH“ gefragt werden, geben wir unsere Einschätzung aus fachdidaktischer Sicht ab, auch zuhanden der Erziehungsdirektion.
Wie „Heidi“ bereits 2011 (!) zu einem Beitrag von Urs Kalberer bemerkt hatte : „Auf der bildungspolitischen Ebene können und wollen wir als Experten nicht intervenieren“.
Und die Frage rund um das Lehrmittel „mille feuilles“ ist politisch so aufgeladen und der Druck so gross, dass diese nun primär auf der Ebene der Bildungsdirektorin Christine Häsler beantwortet wird.
Dabei geht es jedoch nicht darum, das jetzige Lehrmittel, das den Lehrplan inkl. Sprachendidaktik umsetzt und für die 5./6. überarbeitet wurde, zu verbieten, sondern analog zu anderen Fächern eine oder mehrere Alternativen zuzulassen. Diese würden vorgängig geprüft und von der Erziehungsdirektion ins Lehrmittelverzeichnis aufgenommen.
Da die Haltung dem Lehrmittel gegenüber entscheidend ist, könnte ein sogenanntes Alternativobligatorium eine gewisse „Entkrampfung“ bringen: Wer gerne und gut mit dem aktuellen Lehrmittel unterrichtet, kann dies weiterhin tun. Wer daran verzweifelt, kann ein anderes Lehrmittel aus dem Verzeichnis benutzen, das ihm besser liegt - und damit wohl auch befriedigendere Resultate erzielen als bisher.
Damit käme allerdings auch wieder mehr Verantwortung auf die Lehrperson respektive auf die Schule zu, welche sich diesen Entscheid sowie dessen Konsequenzen gut überlegen und über die Stufen hinweg koordinieren müsste.
Zudem gilt zu bedenken, dass unter den aktuellen Rahmenbedingungen (nur 2-3 Lektionen Kontakt mit der Fremdsprache pro Woche, geringere Motivation der meisten Schülerinnen und Schüler für Französisch versus Englisch, kaum ausserschulische Kontakte zu Französisch im Gegensatz zu Englisch…) auch von einem anderen Französischlehrmittel keine Wunder zu erwarten sind. Deshalb will die Bildungs- und Kulturdirektion unter anderem die Austauschprogramme verstärkt fördern und zweisprachige Unterrichtsangebote auf allen Schulstufen unterstützen (siehe z.B. EDUCATION 5.19).
Das Lehrmittel ist also nur ein Teil des Puzzles, was manchmal in der Hitze der Debatte etwas vergessen geht…