Liebes Forum,
in meiner Tätigkeit als schulische Heilpädagogin brennen und interessieren mich zur Zeit folgende beiden Fragen:
Auffällig oft erhalten seit einiger Zeit Kinder mit unterdurchschnittlichem IQ ebenfalls eine ASS Diagnose: Weshalb? Was bringt dies, was ist der Vorteil/Nutzen davon? Vor allem, wenn das autistische Verhalten nicht im Vordergrund steht, sondern eher als „Nebenerscheinung“ beobachtet wird?
Wo können Kinder und Jugendliche mit einer ASS-Diagnose und einem durchschnittlichen bis überdurchschnittlichen IQ im Kanton Bern geschult werden, wenn eine Integration in der Volksschule aus verschiedenen Gründen nicht funktioniert?
Guten Tag Kassiopeia
Sie sprechen mit den Fragen spannende Themen an. Hinsichtlich vermehrter Austismus-Spektrum-Diagnosen sagt die Statistik eigentlich, dass diese insgesamt angestiegen sind, aber ganz besonders bei Kindern und Jugendlichen mit einem durchschnittlichen oder hohen IQ. Sie beobachten das Phänomen in Ihrem Erfahrungsfeld offenbar eher bei Schülerinnen und Schülern mit tieferem IQ. Den Anstieg der Diagnosezahlen führt man vor allem auf eine erhöhte Sensibilisierung von Laien und Fachpersonen für das Thema Autismus und veränderte klinische Diagnosekriterien zurück. Wenn eine Fachperson zum Schluss kommt, dass bei einer Schülerin/einem Schüler eine Autismus-Spektrum-Störung (ASS) vorliegt, dann wahrscheinlich weil sie annimmt, dass sich das beim Kind oder Jugendlichen beobachtbare Verhalten ganz besonders vor diesem Hintergrund erklärt.
Worin besteht ein möglicher Nutzen oder Vorteil der Diagnose? Sie kann neue Zugänge eröffnen, um Handlungsweisen von einer Schülerin/einem Schüler besser zu verstehen, sie nicht z.B. als Verweige-rung oder Provokation deuten zu müssen. Sie kann helfen zu erkennen, welche Rahmenbedingungen das Kind/der Jugendliche braucht, um lernen zu können. Die Diagnose kann auch ein Argument sein, um einen erhöhten personellen Bedarf zu begründen.
Für Kinder und Jugendliche mit ASS ohne kognitive Beeinträchtigungen, aber mit einem erhöhten Unterstützungsbedarf, dem am Schulstandort zeitweilig oder dauerhaft nicht Rechnung getragen werden kann, müsste individuell nach einer guten Lösung gesucht werden. Dazu findet man sich in der Regel an einem Runden Tisch zusammen und überlegt zusammen mit den Eltern, zuständigen Lehrpersonen, der Schulleitung, dem Schulinspektorat, allenfalls mit involvierten Fach- und Beratungspersonen, wie der weitere Schulungsweg aussehen könnte.
Liebe Adhei,
besten Dank für die Ausführungen.
Gerne hätte ich natürlich noch konkretere Antworten auf meine Fragen erhalten, vermutlich gibt es diese aber nicht so einfach…
…zu Frage 1. hätte mich interessiert, ob Kinder mit unterdurchschnittlichem IQ evtl. Diagnosekriterien für ein ASS quasi „automatisch“ erfüllen, da sie z.B. Schwierigkeiten im Kommunikations- oder Sozialverhalten haben?
Und zu Frage 2, ob es im Kanton Bern vielleicht Institutionen gibt, welche betroffene Kinder/ Jugendliche aufnehmen (Unterricht mit Lernzielen nach Lehrplan)? Diese Frage stellt sich natürlich erst, wenn man am runden Tisch alles Mögliche bereits „ausgeschöpft“ hat.
Guten Abend Kassiopeia
Danke für die Ausdifferenzierungen der Fragestellungen. Die erste Frage kann man klar mit einem Nein beantworten. Kinder mit einem unterdurchschnittlichen IQ nehmen keineswegs automatisch autistisch wahr und sie zeigen andere Sozialverhaltensformen. Allerdings können beide Diagnosen im Sinne einer Komorbidität, kombiniert auftreten, dann spricht man vom Frühkindlichen Autismus.
Zur zweiten Frage: Am runden Tisch bzw. durch die zuständigen Schulinspektorinnen/Schulinspektoren kann, gemäss Artikel 18 des Volksschulgesetzes, bei erhöhtem Unterstützungsbedarf eine anderweitige Schulung verfügt werden. Dies kann, orientiert an Lernzielen des Lehrplans, in Form einer Schulung an der Klinikschule Neuhaus der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, im Rahmen eines Homeschoolings oder organisiert durch einzelne private Stiftungen erfolgen.