Integration eines KIndes mit Asperger Syndrom

Vor zwei Wochen habe ich die Begleitung eines Kindes mit Asperger Syndroms aufgenommen.
Vorgängig wurden an einem runden Tisch mit Experten die Bedingungen für ein Gelingen der Integration besprochen.
Der Klassenlehrer nimmt seine Aufgabe mit dem neuen Kind und seinen Bedürfnissen sehr ernst.
Das Kind scheint sich sehr wohl zu fühlen.
Der Unterricht verläuft streng durchstrukturiert und Lehrerzentriert. Geredet, gearbeitet wird nach genauen Vorgaben der Lehrperson. Es bleibt kein Raum mehr für Eigeninitiative oder Spontaneität.

Wie könnte diese Klasse trotzdem eigenverantwortlich und selbständig arbeiten?
Wie kann ein offener und selbstverantworteter Unterricht gestaltet werden, dass sich auch ein Kind mit Asperger Syndrom wohl fühlen kann?
Wer kann von seinen Erfahrungen berichten?

Liebe Grüsse und vielen Dank für eure Hinweise!

Liebe Fragestellerin,
Du sprichst mit Deiner Fragestellung ein ebenso komplexes wie spannendes Themenfeld an. Bevor ich direkt auf Deine Anliegen eingehe, möchte ich zunächst meiner Freude darüber Ausdruck geben, dass der Start der Schülerin/des Schülers mit Asperger Syndrom in Eurer Klasse gelungen ist. Ein Lehrer, der u.a. die Bedürfnisse des betreffenden Kindes ernst nimmt, ein Kind, das sich offensichtlich wohl fühlt und eine Begleiterin, die das beides wahrnehmen kann, sind gute Startbedingungen.
Ich habe in meiner Berufspraxis viele Menschen mit Autismus-Spektrum- Störungen unterschiedlichen Alters begleitet. Dabei habe ich immer wieder die Erfahrung gemacht, dass sehr klare, auf uns vielleicht fast schon zu starr wirkende Strukturen, besonders am Anfang enorm wichtig sind. Dies, weil sie eine stabile Orientierungsgrundlage schaffen, die Erwartung des sozialen Umfeldes berechenbarer machen.
Viele Menschen mit Asperger Syndrom bzw. mit Autismus-Spektrum- Störungen allgemein, sind sehr stark auf solche klare Rahmenbedingungen angewiesen. Wie lange und in welcher Intensität sie in welchem Bereich - der räumlichen, zeitlichen oder arbeitsorganisatorischen Strukturierung - auf starke unterstützende Hilfen angewiesen sind, ist natürlich individuell unterschiedlich. Wenn die Vertrautheit mit der Situation und ihren Abläufen steigt, entsteht mehr und mehr Raum für die Spontaneität und Eigenverantwortung, die Du Dir verständlicherweise schon jetzt von Herzen wünscht.
Aus der Perspektive der betreffenden Schülerin/des betreffenden Schülers ist es vermutlich ohnehin schon so, dass sie/er sich grosser Anforderungen in Sachen Flexibilität und einer riesigen Fülle von Entscheidungen, die innert kürzester Zeit getroffen werde müssen, gegenüber sieht. Offenbar aber gerade noch so vielen, dass sie/er sich wohl fühlen kann. Vielleicht hilft Dir noch ein Selbstzeugnis eines Mannes, der selber von Autismus betroffen ist, er schreibt: `Worte waren für mich kein Problem, wohl aber die Erwartung der anderen, dass ich darauf reagierte‘ (vgl. Zöller).
Deine Frage berührt aus meiner Sicht aber auch noch weitere grosse Themenfelder, zwei die ich wahrnehme, möchte ich kurz skizzieren:
• Vorstellungen von Lehr- und Lernumgebungen, die möglichst hohes integratives Potential entfalten können und zugleich viel Raum zur Eigenaktivität eröffnen
• Vorstellungen von Formen unterrichtsbezogener Zusammenarbeit zwischen Dir und der Regelschullehrkraft.
Habt Ihr Euch schon über Eure diesbezüglichen Vorstellung und Wunschziele austauschen und entsprechende Absprachen für die Etappenziele der Zusammenarbeit im nächsten Jahr treffen können? Welche Möglichkeiten gibt es, dass Ihr Euch gemeinsame Wissens- und Erfahrungshintergründe, z.B. im Rahmen von Fortbildungen oder Exkursionen aneignen könnt?
Auch hier scheint es mir wichtig, von einem gemeinsamen Prozess auszugehen, den Ihr vor Euch habt, in dem auch das Bedürfnis der Erwachsenen zum Tragen kommt, bei aller Bereitschaft zur Veränderung, genügend sicheren Boden unter den Füssen zu behalten.
Ihr habt gemeinsam mindestens ein Jahr Zeit, Euer Weg hat gerade erst begonnen und, was das Wichtigste ist, er hat gut begonnen.
Deine Fragestellungen sind solche, die zum weiteren Diskurs anregen. In diesem Sinne hoffe ich sehr, Dir hier und da eine Anregung gegeben zu haben, aber auch, wieder von Dir und Deinen Erfahrungen zu hören.

Mit lieben Grüssen
Adhei

Liebe Adhei,

ich danke dir für deine Antwort!
Es beruhigt mich, zu lesen, dass wir auf dem richtigen Weg sind.

Danke für deinen Hinweis auf die Zusammenarbeit mit dem Klassenlehrer.
Ich habe angeboten, dass ich als Assistenz an der Klasse arbeite, um den Klassenlehrer zu unterstützen.
In einem Gespräch nach der ersten Schulwoche habe ich den Klassenlehrer gefragt, ob er unter anderen Umständen auch im offenen Unterricht, an Projektunterricht oder im Werkstattunterricht arbeite. Dies hat er verneint und mir erklärt, dass es ihm sehr wichtig ist, Lehrerzentriert zu arbeiten. Ich kann das sehr gut annehmen, und in der besonderen Situation mit einem Kind mit Asperger Syndrom erst recht.
Insofern werde ich den Klassenlehrer weiterhin in dieser Unterrichtsform unterstützen.

Meine Frage ist nun, wie ich den Aspekt des selbstverantwortlichen Lehrens und Lernens, Formen des offenen Unterrichts anregen könnte, so dass dies auch für unser Kind mit Asperger Syndrom eine Bereicherung ist.
Mir ist klar, dass dies ein Thema ist, das erst in fernerer Zukunft aktuell werden könnte.
Trotzdem, oder gerade deshalb, möchte ich mich heute schon damit auseinander setzen, um zu gegebener Zeit professionell in das Thema einzusteigen.

Es scheint ja, dass der Unterricht, der auf ein Kind mit Asperger Syndrom angelegt ist, den Prinzipien des offenen Unterrichts diametral entgegen liegt. Und trotzdem bin ich überzeugt davon, dass gerade die Selbständigkeit und die Selbstverantwortung wie sie im Alltag ausserhalb der Schule gefordert ist, für alle Kinder, und speziell für ein Kind mit Asperger Syndrom, von zentraler Wichtigkeit ist und daher im Unterricht gefördert werden sollte.

Ich wäre froh um Hinweise, wie man ein Kind mit Asperger Syndrom zur Arbeit im offenen Unterricht, zum Werkstattunterricht, zur Arbeit an Wochenplänen und zum selbstverantworteten Lernen generell hinführen kann.
Ich wäre froh, wenn ich Anregungen bekäme, welche Aspekte des Unterrichtens nun für Kinder mit Asperger Syndrom von zentraler Wichtigkeit sind, sozusagen als Prädiktoren „Guten Unterrichts“ festgehalten werden könnten.

Mit lieben Grüssen, Malena

Liebe Malena,
vielen Dank für Deine Rückmeldung und die Weiterführung der Diskussion. Ich fühle mich in den Anliegen, die ich Dir in meiner ersten Antwort zu vermitteln versuchte, sehr gut verstanden. Vielen Dank für das sorgfältige Eingehen Deinerseits auf diese Aspekte.
Wir sind uns offensichtlich darin einig, dass der Prozess einerseits Zeit braucht und andererseits nur gelingen kann, wenn Du ihn kooperativ mit dem Klassenlehrer sukzessive weiterentwickeln kannst.
Selbstverständlich sind aber die Fragen, die Du bezüglich Asperger Syndrom und Offenem Unterricht formulierst, nicht nur berechtigt, sondern auch ausserordentlich spannend. Gerne teile ich Dir nun dazu meine Erfahrungen und Überlegungen mit.
Offener Unterricht zielt wesentlich auf den Aufbau des `Lernen Lernens‘, und damit verbunden auf die Entwicklung guter Selbstmanagementkompetenzen der Schülerinnen und Schüler ab. Ein Ziel das autismusspezifische Therapieansätze, wie insbesondere TEACCH, ebenso verfolgen. Hier haben wir also einen gemeinsamen Nenner gefunden.
Ich möchte Dir im Folgenden die Leitfragen angeben, die im TEACCH- Ansatz im Zentrum stehen, wenn es um Fragen der Strukturierung von Raum, Arbeitsplatz, Zeit und Arbeitsauflauf geht:
Leitfragen zu Raum und Arbeitsplatz:
• Wo gehört was hin (Zuordnung: Dinge – Ort)
• Wo soll ich mich aufhalten (Zuordnung: Person Ort)
• Wo wird was getan (Zuordnung: Aktivität – Ort)
Wenn das Klassenzimmer, die Fachunterrichträume usw. unter diesem Aspekt beleuchtet und eingerichtet werden, gibt gewissermassen schon der Raum und das Material wesentliche handlungssteuernde Informationen. Ein entscheidender Meilenstein in Sachen Entwicklung von Selbständigkeit.
Leitfrage zu Arbeits- und Arbeitsplatzorganisation
Was soll ich tun?
Wie viel ist zu tun?
In welcher Reihenfolge ist die Arbeit sinnvoller Weise zu erledigen? (Bereitstellung von Selbstinstruktionsplänen die aufgebaut sind wie sehr gut bebilderte Gebrauchsanweisungen bzw. Rezepte)
Wann bin ich fertig?
Was kommt danach?
Du siehst, es geht um den Aufbau von Handlungsgewissheit auf der Basis sehr guter visueller Informationsübermittlung. Je mehr die Dinge für sich selber sprechen und ein ritualisierter Umgang mit ihnen aufgebut werden konnte, um so selbständiger können Menschen mit Autismus handeln.
Wenn Du dich nun fragst, was daran so autismusspezfisch ist, stellst du dir aus meiner Sicht eine sehr gut Frage. Ich gehe davon aus, dass alle Hilfen auf die ein Kind mit Asperger Syndrom vielleicht zwingend angewiesen ist, für die Mitschülerinnen und Mitschüler auf jeden Fall nicht beeinträchtigend, in vielen Fällen wohl eher ebenso unterstützend wirken. Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen haben sehr oft Bedürfnisse, die als elementar- menschliche Bedürfnisse betrachtet werden können.
Zwei Bereiche solltest Du noch im Auge haben:
• den gezielten Aufbau von Sozialkompetenzen, dies mit dem Ziel: sich selber besser verständlich machen zu können und die anderen besser verstehen zu können. (siehe Literatur)
und
• die Unterstützung der Möglichkeit Eigeninitiative zeigen zu können.
Eigeninitiativ werden zu können, stellt für viele Menschen mit Autismus ein grosses, neurologisch bzw. neuropsychologisch begründetes Problem dar. Es ist viel zu komplex, um es in diesem Rahmen sinnvoll erläutern zu können. Hilfreich ist hier oftmals konsequent an den (Spezial-)Interessen der Schülerin/des Schülers anzusetzen, also die Bereiche zu nutzen, die mit starken eigenen Antriebskräften verbunden sind.
Liebe Malena, damit möchte ich zunächst schliessen, freue mich aber schon jetzt darauf, allenfalls wieder von Dir zu hören, ob Du die Hinweise als hilfreich betrachtet hast und welche Erfahrungen Du bei der Umsetzung machst. Auf jeden Fall wünsche ich Dir spannende Erfahrungen.
Mit lieben Grüssen
Adhei

Literaturhinweise:
Häussler, Anne (2008): Der TEACCH Ansatz zur Förderung von Menschen mit Autismus: Einführung in Theorie und Praxis. Dortmund: Verlag modernes lernen
Häussler, Anne; Happel, Christina; Tuckermann, Antje; Altgassen, Mareike; Adl-Amini, Katja (2003): SOKO Autismus: Gruppenangebote zur Förderung SOzialer KOmpetenzen bei Menschen mit AUTISMUS. Erfahrungsbericht und Praxishilfen. Dortmund: Verlag modernes lernen

Bitte entschuldige, die ab jetzt unvollständigen Literaturangaben. Die unten stehenden Bücher habe ich gerade nicht zur Hand. Aber diese Angaben werden Dir reichen, um zu finden, was Du suchst.

Schatz, Yvette; Schellbach, Silke: Mit Schuhen lernen: Ein Arbeitsbuch für Eltern und Fachleute. Verlag Kleine Wege
Schatz, Yvette; Schellbach, Silke: Kompetenzmappen: Entwicklung visualisieren- ein didaktischer Weg. Verlag Kleine Wege
Schatz, Yvette; Schellbach, Silke: Ideenkiste NR. I Eine Kiste voller Ideen zur praktischen Umsetzung von pädagogischen Inhalten nach dem TEACCH-Ansatz. Verlag Kleine Wege

Liebe Adhei,

ganz lieben Dank für deine Hilfestellungen!
Den TEACCH-Ansatz habe ich nicht gekannt.
Ich bin froh über den Hinweis darauf, und ich habe dadurch bereits sehr wertvolle Hinweise für meine Arbeit gewonnen!

ich habe heute die 9. Lektion (3.Woche) an der Klasse mit einem Kind mit Asperger Syndrom erlebt.
Im folgenden nenne ich dieses Kind Lisa. (Name geändert.)
Den Klassenlehrer nenne ich Theo. (Name geändert.)

In dieser Woche hat sich bei mir etwas verändert. Während ich zu Beginn den stark durchstrukturierten und lehrerzentrierten Unterricht als einengend empfunden habe, erlebe ich ihn nun als eine Wohltat. Die Atmosphäre in der Klasse ist sehr ruhig und wohlwollend. Eine engagierte, konzentrierte Arbeitsatmosphäre ermöglicht ein vertieftes Eingehen auf den Stoff. Dies vermittelt das Gefühl in diesem Klassenzimmer gut aufgehoben zu sein. Struktur verschafft eine Klarheit die es ermöglicht, sich wirklich auf seinem Stuhl hinzusetzen, zu entspannen und sich einzulassen.

Da ich in diesen ersten 9 Lektionen einfach mal zuschauen und hie und da zudienen konnte, wurde mir bewusst, dass die angenehme Atmosphäre im Schulzimmer stark geprägt ist von Theos Persönlichkeit. Es ist spürbar, dass er seinen Unterricht ganz auf die Bedürfnisse von Lisa ausrichtet, und dies mit einer sehr einfühlsamen und liebevollen Haltung. Die Aussage, dass dieser lehrerzentrierte Unterricht etwas starr wirkt muss ich korrigieren: Da Theo viel Engagement und Begeisterung für das zu behandelnde Thema ausstrahlt, in der Klasse sehr präsent ist und auf die individuellen Bedürfnisse der Kinder eingeht, ist dieser Unterricht doch sehr lebendig. Es ist die Persönlichkeit Theos und sein Humor, die diese stille und konzentrierte Lebendigkeit, fokussiert auf das Unterrichtsthema, prägt.
Ich sehe jetzt, dass stark strukturiertes und lehrerzentriertes Unterrichten ein Aspekt von Unterrichten ist, der allen Kindern gut tut. Insofern ist es wahr, dass Kinder mit Asperger Syndrom eine Qualität in die Klasse hinein bringen, die den grundsätzlichen Bedürfnissen aller Kinder gerecht wird.

Heute konnte ich mit Theo austauschen, welche Themen wir in der Zukunft angehen könnten: Soziales Verhalten, Beziehungen, Gefühle, selbständiges Arbeiten. Wir haben uns aber darauf geeinigt, langsam und behutsam vorzugehen. Ich finde es gut, die Unterrichtsstruktur wie sie jetzt eingeführt ist beizubehalten, damit sie einen sicheren und vorhersehbaren Rahmen für Lisa bieten kann.

Theo hat zudem einen farbigen Stundenplan entworfen, aus dem ersichtlich wird, welche Arbeitsform oder welche Themen jeweilen in einer Lektion im Zentrum stehen. Auf diesem Plan ist angegeben, in welcher Singstunde gesungen oder Theorie erarbeitet wird, wann in Deutsch gelesen oder geschrieben wird. Das finde ich eine sehr schöne Idee!

Ich bin sehr froh, dass Theo so überlegt und verantwortungsvoll in dieses neue Schuljahr mit Lisa eingestiegen ist.
Ich wäre wahrscheinlich experimentierfreudiger vorgegangen und hätte dadurch zwar herausgefunden, was geht und was nicht, hätte damit aber auch unnötige Verwirrung gestiftet.
Es ist dies mein erstes Asperger-Kind, das ich in einer Klasse begleite. Obwohl ich natürlich darüber gelesen habe sehe ich nun, dass ich erst in der Praxis wirklich verstehe, worum es bei dieser Aufgabe geht.
Was ich bisher gelernt habe ist, dass es wichtig ist, die Situation in der Klasse zuerst so klar und strukturiert wie möglich zu gestalten und dann behutsam und achtsam den Raum für neue Herausforderungen zu öffnen.

Nun möchten wir natürlich wissen, wie es unserer Lisa eigentlich geht.
Das Kind fällt in der Klasse überhaupt nicht auf. Niemand könnte es im Klassenverband als KInd mit Asperger Syndrom erkennen. Wir werten dies als gutes Zeichen.
Wie es aber in Lisa drin aussieht, das wissen wir nicht.
Es stellt sich die Frage, wie wir dies herausfinden können.

Theo hat mir heute die Aufgabe gestellt, in einer der nächsten Lektionen eine Unterrichtseinheit zu gestalten, in der die Schüler die ersten Schulwochen reflektieren und ihre Erfahrungen und Bedürfnisse formulieren können.
Am liebsten würde ich Lisa beiseite nehmen und sie fragen, wie es ihr geht, was ihr gefällt, was nicht und was sie braucht. Ich möchte aber verhindern, dass sie dadurch auffällt. Ich weiss, dass sie wie wie alle anderen Kinder behandelt werden möchte. Mit allen Kindern kann ich das aber wohl kaum bewältigen, da die Zeit dafür nicht reicht. (Oder doch?)
(Ausserdem möchten wir natürlich wissen, wie die anderen so genannt „normalen“ Kinder die Schule erleben!)

Ich bin auf der Suche nach einem geeigneten Instrument, das die Strukturierung einer Reflexion der eigenen Befindlichkeit in Bezug auf die Schule erfassbar macht.
Kennt jemand geeignetes Unterrichtsmaterial zu diesem Thema?
Wer hat Ideen/Erfahrungen?
Welche Aspekte wären in Bezug auf Lisa von besonderer Bedeutung?

Und noch eine Frage:
Theo hat bisher (in den Klassen, die er früher begleitet hat), alle drei Wochen jedem Kind eine/n neue/n Pultnachbarn/in zugewiesen, damit sich alle Kinder begegnen, kennen lernen und zusammen arbeiten.
Wir sind uns nicht sicher, ob dies für Lisa gut ist.
Ich tendiere einerseits dazu, es auszuprobieren, weil ich diese Idee für die Kinder sehr wertvoll finde.
Andererseits finde ich es unklug, Lisas gewonnene Sicherheit zu stören.
Was meint ihr dazu?
Vielleicht gibt es Hinweise, wie wir das Wechseln des/r Pultnachbarn/in geschickt begleiten können, so dass es auch für Lisa eine Bereicherung sein kann?

Ich freue mich auf euer Mitdenken, eure Hinweise und auf eure Hilfestellungen!
Ich bin sehr froh darüber, dass es dieses Forum gibt!
Es ist ein gutes Gefühl, als Gruppe an den selben Interessen zu arbeiten.
Und am meisten freue ich mich, wenn Kinder gerne in die Schule kommen, weil es ein Ort ist, an dem sie ernst genommen werden und in ihren Bedürfnissen unterstützt werden.
Dass ihr mich darin unterstützt, dafür möchte ich euch ganz herzlich danken!

Mit lieben Grüssen,
Malena

Liebe Malena,
Du verhilfst mir zu einer sehr spannenden und neuen Erfahrung, nämlich einer sehr lebendigen Diskussion auf Internetebene. Vielen Dank dafür, dass Du so am Ball bleibst und den Ball auch immer wieder anderen, so auch mir, zuspielst.
Wenn ich nun erneut auf Deinen Beitrag reagiere, so hoffe ich zugleich, dass sich andere Leserinnen und Leser des Lehrpersonenforums nicht abhalten lassen, auch ihre Gedanken beizusteuern. Wenn wir noch mehr Stimmen zu diesem Themenkomplex hören könnten, wäre das natürlich für alle Beteiligten ein grosser Gewinn.
Nun also meine Gedanken zum Fortgang Deiner jungen Geschichte mit Lisa und Theo. Grundsätzlich freut es mich sehr zu hören, wie schnell es Dir gelungen ist, den hochstrukturierten und zugleich lehrerzentrierten Unterricht konsequent unter dem Gesichtspunkt dessen, was er gegenwärtig ermöglicht, zu betrachten. Ebenso schön finde ich, wie sich durch diesen Perspektivwechsel auch die Werte von Theo ganz deutlich offenbaren. Wie nimmt wohl er Dich und Deine Rolle und Funktion war – weisst Du das?
Eure Strategie, behutsam und langsam vorzugehen, ist mir sehr sympathisch. Sie verweist auf einen Aspekt, der mir immer wieder bewusst wird: Anderen Menschen Halt zu geben gelingt, so glaube ich, immer nur dann gut, wenn wir selbst sicher sind und unsere Schritte gerade so gross sind, wie es unsere persönlichen Ressourcen zulassen. Insofern müssten wir vielleicht in manchen Alltagsdiskussionen viel weniger darüber streiten, ob Etwas richtig oder falsch ist , viel entscheidender ist die Frage, was unter den gegebenen Umständen von allen Beteiligten möglich gemacht werden kann.
Die Idee mit dem farbigen Stundenplan, der schnell auf inhaltliche Schwerpunkte in den Fächern orientiert, finde ich übrigens sehr gut.
Eine gute Strukturierung stellt nach meinem Verständnis natürlich auch eine zentrale Gelingensbedingung für Offenen Unterricht dar und ist in diesem Sinne keineswegs nur ein bestimmendes Merkmal lehrerzentrierten Unterrichts. Ich nehme auch nicht an, dass Du es so gemeint hast, möchte diesen Aspekt an dieser Stelle aber doch ganz deutlich betonen. Wenn also eine Lehrperson, anders als Theo, eine ausreichend lange Tradition im Offen Unterricht gehabt hätte, sich darin sicher fühlen würde, so hätte der Start mit Lisa auch so aussehen können. Dies mit ebenso grossen Chancen auf Erfolg, wie der jetzt von Dir und Theo gewählte. Wie heisst es doch so schön: Viele Wege führen nach Rom. Das gilt auch für die Gestaltungsmöglichkeiten von Lehr-und Lernumgebungen mit integrativem Potential.
Nun zu Deinen Fragen bezüglich des Erfassens der Befindlichkeit von Lisa und ihren Mitschülerinnen und Mitschülern. Wenn Du einverstanden bist, dann gehe ich zunächst auf Zugänge für Lisa ein. Bezüglich der übrigen Kinder werde ich Dir zum Schluss noch einen Literaturhinweis und Gedanken mit auf den Weg geben.
Es gehört zu einer der grössten Herausforderungen für Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen, sich ihrer eigenen Befindlichkeit und der anderer differenziert bewusst zu werden. Diesbezüglich wirkt sich das Netzwerk aller neuropsychologischen Störungskomplexe aus, die für Menschen mit Autismus diskutiert werden: Störung der zentralen Kohärenz (Fähigkeit, Dinge im Zusammenhang zu sehen), Störung der Exekutiven Funktionen (Fähigkeit, zu vorausschauendem, zielgerichteten und strukturiertem Handeln), Störungen der Theory of Mind (Fähigkeit, andere zu spiegeln und sich dadurch in sie hineinzuversetzen und eine Selbstreflexivität zu entwickeln).
Menschen mit Autismus- Spektrum- Störungen können grosse Probleme haben, die sozialen Erwartungen zu erfassen. Dies fällt besonders schwer, wenn Fragen zu global gestellt sind, wie z.B. die Frage: `Wie geht es Dir‘? Um hier eine sozial übliche Antwort geben zu können, müsste das Kind wissen, was die Gesprächspartnerin hören möchte. Ansonsten tut sich hinter dieser Frage eine riesige Vielfalt von Aspekten auf, zu denen es hier theoretisch Stellung beziehen könnte: Wie geht es mir zu Hause, in der Schule, bei Theo, bei Malena, mit allen einzelnen Mitschülerinnen und Mitschülern, in den Fächern, morgens um 8.00 Uhr oder um 8.30 Uhr – Du siehst, was ich meine. Menschen mit Autismus können nur erschwert, also mit Hilfe, Konzepte von sozialen Erwartungen aufbauen. Die Quintessenz lautet also, wenn Du Lisa fragen möchtest, wie es ihr geht, beginnt es mal damit, dass Du die Frage ganz präzise formulierst solltest. Also gilt es zwei drei Aspekte aus der aufgezeigten Vielfalt herauszupicken, zu denen Du Lisa nacheinander befragst. Hilfreich wäre auch, wenn Du ihr verschiedene Antwortmöglichkeiten (nicht zu viele, vielleicht zunächst 3- schlecht, mittelmässig, gut), z.B. mit Smilies gibst. Also, eine zu weit gefasste Frage ist zu diffus und wird unbeantwortbar und geklärte Möglichkeiten der Beantwortung können ebenso ins Nirvana führen.
Ansonsten möchte ich Dich nochmals auf das SOKO-Buch verweisen, dass ich dir in meiner letzten Antwort angegeben habe. Dort findest du Hinweise, wie Du Lisa u.a. auf einem längeren Weg begleiten kannst, ihre Befindlichkeiten und die anderer, wahrzunehmen und zu benennen.
Auch für die anderen Kinder gilt, meiner Ansicht nach, dass soziales und emotionales Lernen ein längerer Prozess ist, den es systematisch aufzubauen gilt. Manche Anregungen, die Du in den Büchern von Franziska Stucki findest, kannst du übrigens auch gut auf Lisa übertragen.
Ich möchte damit zunächst schliessen und freue mich schon darauf, vom Fortgang der Dinge durch Dich zu erfahren.
Mit lieben Grüssen
Adhei

Literatur:
Stucki, Franziska ( 2008 ).BeziehungsWeise: Klassenprojekte: Unterrichtssequenzen zum emotionalen und sozialem Lernen. Praxisbücher. 1. bis 5.Schuljahr. Schaffhausen: Schubi Lernmittelmedien
Stucki, Franziska ( 2008 ). BeziehungsWeise: Gefühlsreisen: Unterrichtssequenzen zum emotionalen und sozialen Lernen. Praxisbücher. 1. bis 4.Schuljahr. Schaffhausen: Schubi Lernmittelmedien

Liebe Malena,
ich bin es gleich noch einmal, habe ich doch leider, entschuldige das bitte, Deine letzte Frage zu beantworten vergessen. Es geht um den Wechsel des Pultnachbars, der Pultnachbarin. Auch hier gibt es wahrscheinlich kein grundsätzlich richtiges oder falsches Vorgehen. Durch Eure Beobachtungen während des Prozesses könnt Ihr herausfinden, wie wichtig die Konstanz der Person neben ihr für Lisa ist. Wenn sie keine problematischen Reaktionen zeigt, gibt es keinen Grund, den Versuch abzubrechen. Es könnte auch durchaus sein, dass sie derzeit primär auf Euch ausgerichtet ist, und den Wechsel neben sich als gar nicht so relevant betrachtet.

Wenn Lisa allerdings Belastung und Stress signalisiert, dann gilt es natürlich einen Strategiewechsel vorzunehmen. Der neben der Konstanz der Stiznachbarschaft auch die Möglichkeit einschliesst, dass sie alleine am Pult sitzt.

So, nun verabschiede ich mich aber wirklich für heute von Dir und den Leserinnen und Lesern des Forums.

Mit erneuten lieben Grüssen
Adhei

Guten Tag
zur ganzen Thematik rund um das Asperger-Syndrom ist in der letzten Ausgabe des Education 1/13 ein interessanter und ausführlicher Text publiziert worden, den wir hier gerne zum Lesen empfehlen.

Anregung an die Betreiber/innen des Forums:
Solche lange Webadressen machen wenig Sinn. Heute ist es üblich, Webadressen in der Art „Beitrag in Education 1/13“ anzuzeigen, wobei dann bei „Beitrag in Education 1/13“ ein Link auf die kryptische Adresse
http://www.erz.be.ch/erz/de/index/direktion/ueber-die-direktion/education_amtlichesschulblatt/archiv_2013.assetref/content/dam/documents/ERZ/GS/de/EDUCATION/EDUCATION%201.13.pdf
hinterlegt ist. Offenbar ist das bei der verwendeten Software-Lösung für dieses Forum nicht möglich. Das sollte man ändern; letztlich geht es hier um Medienkompetenz, die in unseren Schulen eine immer wichtigere Rolle spielt.

Guten Tag Waibel
vielen Dank für Ihren Hinweis, den wir gerne aufnehmen. Wir haben den Link entsprechend korrigiert.
Freundliche Grüsse