Ich (acht Jahre Berufserfahrung) habe dieses Schuljahr eine 6. Klasse übernommen und gebe nach drei Jahren Pause auch wieder Mathematikunterricht. Ich nutze erstmals die überarbeitete Version des Zahlenbuches 6. Dort sind im Arbeitsheft jeweils pro Thema die Aufgaben mit Grundanforderungen sowie diejenigen Aufgaben, die erweiterte Anforderungen beinhalten, aufgeführt. Ich verstehe darunter, dass die Grundanforderungen möglichst von allen SuS erreicht werden sollten, während die erweiterten Anforderungen für SuS, die in diesem Fach ein Sekundarschulniveau haben, lösbar sein sollten. Oder verstehe ich das falsch?
In der 6. Klasse geht es ja bekanntlich auch darum, die SuS in das für sie passende Schulniveau einzuteilen. Deswegen habe ich die ersten beiden summativen Lernzielkontrollen so konzipiert, dass korrekt gelöste Grundanforderungsaufgaben maximal die Note 4.5 ergeben. Werden Aufgaben mit erweiterten Anforderungsniveau auch richtig gelöst, können die Noten 5, 5,5 bzw. 6 erreicht werden.
Mir wurde die Klasse mit dem Kommentar übergeben, dass viele Kinder in Mathematik riesige Lücken aufweisen. Meine Lernzielkontrollen bestätigen dieses Bild: Die Hälfte ist in beiden Tests ungenügend, kann also auch die Grundanforderung nicht erreichen. Das verunsichert mich. Ist mein Beurteilungsmassstab einfach zu streng? Verstehe ich die Anforderungstypen falsch? Im Übrigen werde ich auch Produkte und Lernprozesse beurteilen, was die Noten vielleicht etwas zu heben vermag. Dennoch kann ich es meiner Meinung nach nicht einfach so stehen lassen, dass viele die Grundanforderungen nicht erreichen.
Liebe Leela
du sprichst in deiner Frge ein paar ganz wichtige und zentrale Punkte an. Ich versuche diese in meiner Antwort kurz zu bündeln und mögliche Lösungsansätze aufzuzeigen.
Wie du richtig sagst, gibt die Erreichung der Grundanforderungen grundsätzlich Auskunft darüber, ob ein Schüler/eine Schülerin die nötigen Grundlagen hat, um dem auf diesen aufbauenden Unterricht folgen zu können. Werden diese nicht oder nur mit Mühe erreicht, muss gut überlegt werden, welche Massnahmen zusätzlich nötig sind. Dass es Klassen gibt, die die Lernziele mehrheitlich nicht auf Anhieb erreichen, kommt immer wieder vor und kann sehr unterschiedliche Gründe haben. Dazu kommt, dass der Beurteilung in der 6. Klasse, wegen des bevorstehenden Übertrittes, ganz besondere Bedeutung zukommt und Lehrpersonen deshalb schnell der Kritik von Eltern ausgesetzt sind. Gerade beim Übertritt ist es aber sehr wichtig, dass die Leistungen, die für diesen Entscheid herangezogen werden, etwas über das Potenzial der Kinder aussagt und Prognosen zulässt, in welchem Mass das Kind die Zielstufe erfolgreich durchlaufen kann. Um genau diese Fragen besser einschätzen zu können, geben die kriterienbasierte Beurteilung von Produkten und des Lernprozesses hilfreiche Hinweise. Es bewährt sich auch, gewisse Beurteilungsanlässe nicht mit Noten, sondern mit Worten zu beurteilen. Das verhindert, dass Eltern und Kinder sich allzu sehr auf das arithmetische Mittel der Leistungsbeurteilungen fokussieren.
Die Beurteilung von Produkten und des Lernprozesses sollte ungefähr auf demselben Anspruchsniveau geschehen, wie die Bewertung von herkömmlichen Leistungsnachweisen. So gesehen, kann nicht grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass die Leistungen in diesen Bereichen besser sind, als in den herkömmlichen Tests.
Noch ein Gedanke: Die Grundanforderungen müssen grundsätzlich am Ende des Zyklus erreicht sein. Sind diese zum Zeitpunkt des Testes noch bei vielen Schülerinnen und Schülern nicht erfüllt, spricht nichts dagegen, das Thema nochmals aufzugreifen und anschliessend nochmals zu beurteilen. Damit wird einerseits das angestrebte Zielniveau definiert und andererseits der individuelle Wissenszuwachs ersichtlich. Grundsätzlich orientieren sich die Kinder an den gesteckten Zielen. Erfahren sie in einem Test, dass sie diese nicht erfüllt haben, hilft ihnen eine gezielte Defizitanalyse sich auf einen allfälligen erneuten Test sorgfältig vorzubereiten.
Guten Tag Leela3
„Dennoch kann ich es meiner Meinung nach nicht einfach so stehen lassen, dass viele die Grundanforderungen nicht erreichen“. Bei diesem Satz bin ich hängen geblieben. Warum? Die signifikant ungenügenden Leistungen der Lernenden weisen darauf hin, dass die Lerngeschichte der Klasse in Mathematik nicht optimal verlaufen ist während fünf Jahren.
Jetzt kommt noch die Einteilung der SuS in das passende Schulniveau. Gut möglich, dass die ungenügenden Leistungen strukturbedingt sein können: wechselnde Lehrpersonen, zu wenig individualisierter Unterricht, grosse Schülerzahlen, wenig IF, Fernunterricht (Covid) u.a… Schuldzuweisungen sind nicht zielführend. Wichtig, dass die SuS Vertrauen bekommen in ihre rechnerischen Fähigkeiten, mögen die noch so bescheiden sein. Abklären, wo die einzelnen SuS stehen- gemäss Kompetenzraster LP 21-, was sie können. Darauf aufbauen. Ohne Druck durch Vergleichsarbeiten und Leistungsprognosen. Ev vorübergehende Aufteilung der Klasse in Kleingruppen. Das Schulsystem steht in der Verantwortung für die Förderung der Lernenden. Dass Sie die aktuelle Situation nicht einfach so stehen lassen wollen, spricht für Sie, Ihr Berufsverständnis und Ihre Verantwortung gegenüber den Jugendlichen. Das spricht für Sie als Lehrperson.
Ich danke euch beiden, dass ihr euch die Zeit genommen habt, euch vertieft mit meinem Problem auseinander zu setzen und mir ausführlich Antwort zu geben.
Dann liege ich also mit meiner Beurteilungspraxis (für korrekt gelöste Aufgaben mit Grundanforderungen max. die Note 4.5 zu geben) nicht falsch? Bin ich nicht zu streng? Mir ist es wichtig, meine Beurteilung zu hinterfragen und mit anderen Lehrpersonen zu vergleichen, da ich, wie erwähnt, eher wenige Erfahrungswerte in diesem Fach habe.
Auf jeden Fall werde ich auf diese Resultate nun reagieren, meinen Unterricht dementsprechend gestalten und die SuS hoffentlich dazu ermutigen können, dennoch am Ball zu bleiben.
Dann liege ich also mit meiner Beurteilungspraxis (für korrekt gelöste Aufgaben mit Grundanforderungen max. die Note 4.5 zu geben) nicht falsch? Eine schwierige Frage. Warum? ‚Grundanforderungen erfüllt‘ bezieht sich auf den Kompetenzenraster, der angibt, was unter Grundanforderungen verstanden wird. Der Zahlenwert 4,5 gibt Drittpersonen keine inhaltlichen Hinweise. Dilemma des Schulsystems: Beurteilung mit Kompetenzenraster nach LP 21, die ohne Noten auskommt, den individuellen Lernstand beschreibt, und/oder Notenbeurteilung, die vor allem einen Quervergleich abbildet, ohne nähere Angaben. Konstruktiv, wenn auch mit Mehraufwand verbunden, wäre eine Beschreibung mit dem Kompetenzenraster.
Vordringlich scheinen mir individuelle Massnahmen für die SuS, welche die Grundanforderungen nicht erfüllen.
Verbunden mit dem Aufbau realistischer Selbsteinschätzungen. Ohne destruktive Selbstabwertungen.
Ich kann dein „Ich will das nicht so stehen lassen“ sehr gut nachvollziehen. Ich (seit 1 Jahr berufstätig) stehe mit meiner 6. Klasse momentan an einem ähnlichen Punkt. Etwas weniger als die Hälfte der SuS erreicht/übertrifft die Grundanforderungen die andere Hälfte erreicht sie nicht. Ich finde sehr herausfordernd, dass wir einerseits mit dem Stoff weiterfahren müssen, damit die SuS gut auf die Oberstufe vorbereitet sind, Einige andererseits schon jetzt überfordert sind. Ich probiere, die SuS mit ungenügenden Noten so gut es geht zu motivieren, was geht nochmals zu festigen und zu ermutigen (wir haben auch Unterstützung durch die IF Lehrperson). Trotzdem merke ich, dass ich nicht mehr Kapazität habe, diese Heterogenität aufzufangen.
Beurteilung ist ein schwieriges Thema: Was heisst 4.5? Das ist nirgends definiert. Wichtig ist sicher, dass, wer Ende eines Zyklus (oder auch eines Schuljahres) die Grundanforderungen erfüllt hat, eine genügende Note in seinem Zeugnis haben sollte.
Nun aber noch zu deiner Schlussbemerkung:
Es macht keinen Sinn, auf Biegen und Brechen mit einer Klasse vorwärts zu gehen, wenn der Stoff, auf dem weitere Themen aufbauen nicht sitzt. Aber was machen, wenn sich die einen langweilen weil der Stoff sitzt und die anderen überfordert sind?
Mathematik bietet da die hilfreiche Situation, dass wir den Schwierigkeitsgrad in jedem Stoffgebiet beliebig erhöhen können. Sprich: Schülerinnen und Schüler bearbeiten ein Stoffgebiet mit anspruchsvolleren Aufgaben, damit sie sich nicht langweilen und wertvolle Lernzeit verloren geht. Das hilft, dass alle Kinder am selben Thema arbeiten, aber einfach auf verschiedenen Anspruchsniveaus.
… und manchmal braucht es ganz einfach auch Mut zur Lücke. Dabei muss aber darauf geachtet werden, dass den Kindern dann nicht zu einem späteren Zeitpunkt Schwierigkeiten erwachsen.
Diese Thematik kann gut auch in einer persönlichen Beratung mit erfahrenen Dozierenden ausführlich beleuchtet und nach gangbaren Wegen gesucht werden.