Nach vielen Vorfällen und Durchlaufen sämtlicher Deeskalationsstufen wurde vor kurzem eine Person aus der 9. Klasse aus der Schulpflicht entlassen. Ich als Klassenlehrperson habe mehrere Fragen:
bekommt die Person ein Zeugnis/hat sie ein Recht darauf (wurde ja aus der Schulpflicht entlassen)?
wie geht es jetzt mit dieser Person weiter, bekommt sie ein Coaching bis zum Sommer? Kann man eine Lehre beginnen ohne offiziellen Schulabschluss?
Besten Dank für deine Frage, die bei uns angekommen ist.
Wir haben sie intern der zuständigen Expertin/dem zuständigen Experten weitergeleitet. Eine Antwort folgt so bald als möglich.
Die «vorzeitige Entlassung aus der Schulpflicht» wird im Kanton Bern in Art. 24 des Volksschulgesetzes vom 19. März 1992 (VSG; BSG 432.210) geregelt. Nach Art. 24 Abs. 1 VSG kann die Schulkommission auf Gesuch der Eltern oder auf Antrag der Schulleitung und nach Anhören der Eltern Schülerinnen und Schüler vom Abschluss des zweitletzten Schuljahres hinweg aus der Schulpflicht entlassen, wenn dafür zwingende Gründe vorliegen. Die Lehrerschaft und in der Regel eine kantonale Erziehungsberatungsstelle sind vorgängig anzuhören. Die «zwingenden Gründe», die zu einer vorzeitigen Entlassung aus der Schulpflicht führen, dürfen nicht «disziplinarischer Art» sein. In Frage kommen könnten etwa die Zusage einer ganz seltenen Lehrstelle oder psychische oder andere gesundheitliche Probleme und eine dementsprechende therapeutische Behandlung. Denkbar wäre ferner, dass bei der betroffenen Schülerin oder beim betroffenen Schüler eine schwierige Situation zu Hause besteht. Zu einer vorzeitigen Entlassung darf es aber nur in Ausnahmefällen kommen, da die Schulpflicht nicht durch eine grosszügige Bewilligungspraxis umgangen werden soll (vgl. den Entscheid des Regierungsrats des Kantons Bern vom 13. Dezember 2006, in: BVR 2007 296 ff., E. 5 und 6).
Neben der vorzeitigen Entlassung auf Antrag der Schulleitung oder der Eltern sieht Art. 24 Abs. 2 VSG die Möglichkeit vor, dass eine Schulkommission – gegen den Willen der Schülerin oder des Schülers – vor oder nach Beginn des letzten Schuljahres der Schülerin oder dem Schüler den Besuch der letzten Klasse verweigert. Dies ist jedoch nur dann möglich, wenn sie oder er bereits elf Jahre Volksschule absolviert hat (vgl. Art. 3 Abs. 1 VSG) und nicht mehr lernbereit ist oder durch ihr oder sein Verhalten besondere Schwierigkeiten bereitet (sog. «Wegweisung von der Schule nach vollendeter Schulpflicht»). Die Schulkommissionen fällen derartige Entscheide mit grosser Zurückhaltung. Es ist nämlich zu bedenken, dass die Kinder grundsätzlich ein Recht auf eine abgeschlossene Volksschulbildung haben, und zwar auch dann, wenn sie während ihrer Schullaufbahn ein oder zwei Schuljahre wiederholt haben. Der Besuch des letzten Volksschuljahres kann demnach nur verweigert werden, wenn eine Schülerin oder ein Schüler klar keine Lernbereitschaft mehr zeigt und den Schulbetrieb massiv stört. Werden solche Entscheide gefällt, wird in der Regel das Case Management Berufsbildung (BIZ Kanton Bern) eingeschaltet (vgl. hierzu Vortrag 2019.ERZ.55 der Bildungs- und Kulturdirektion vom 12. August 2020 zur Änderung des Volksschulgesetzes, Ziff. 7 zu Art. 24, S. 40, abrufbar unter https://www.gr.be.ch/etc/designs/gr/media.cdwsbinary.DOKUMENTE.acq/f6f3d5bd8f5f4778ad8c58ef65d94dbd-332/1/PDF/2019.ERZ.55-Vortrag-D-216169.pdf). Gemäss dem Leitfaden «Disziplinarmassnahmen und Unterrichtsausschluss in den Volksschulen des Kantons Bern» des Amts für Kindergarten, Volksschule und Beratung (AKVB) vom Juli 2013, Ziff. 8, muss von der Schule diesfalls ein Beurteilungsbericht ausgestellt werden, dem die Leistungen bis zur Wegweisung zu entnehmen sind. Diese Pflicht müsste im Übrigen auch bei vorzeitiger Entlassung aus der Schulpflicht gelten.
Der Vollständigkeit halber sei sodann auf Art. 28 Abs. 5 VSG hingewiesen, der – im Rahmen des Disziplinarrechts – die Möglichkeit der Schulkommission vorsieht, Schülerinnen und Schüler, welche durch ihr Verhalten den ordentlichen Schulbetrieb erheblich beeinträchtigen, als «ultima ratio» während höchstens zwölf Schulwochen pro Kindergarten- oder Schuljahr teilweise oder vollständig vom Unterricht auszuschliessen (sog. «Schulausschluss»; s. hierzu das Bundesgerichtsurteil BGE 129 I 12). Bei einem Ausschluss sorgt die von der Gemeinde beauftragte Fachstelle in Zusammenarbeit mit den Eltern und mit Hilfe der Lehrerschaft und der Schulleitung für eine angemessene Beschäftigung. Die Volksschule plant die rechtzeitige Wiedereingliederung (Art. 28 Abs. 6 VSG). Der erwähnte Leitfaden des AKVB äussert sich in Ziff. 7 zum Beurteilungsbericht bei Schulausschlüssen.