ich arbeite als IF-Lehrkraft an Kindergärten und Unterstufenklassen.
Nun werde ich vermehrt angefragt, ob ich Kinder aus dem Kindergarten beobachten könnte.
Ich kenne aber keine Förderdiagnostischen Instrumente.
Welche Aspekte gilt es zu beobachten?
Welche Erfassungsinstrumente gibt es dazu?
Guten abend Milena
herzlichen Dank für die spannende Anfrage und den Wunsch, bereits im Kindergarten vielen Kindern möglichst optimale Unterstützung zu geben. Der Kindergarten ist ja wirklich oft sozusagen das Eingangstor für die spätere schulische Laufbahn - umso wichtiger ist hier ein achtsamer Umgang mit fördern und fordern. Ich habe mich jahrelang mit Frühpädagogik beschäftigt und möchte Ihnen gerne meine Überlegungen zu Ihrer Anfrage mitgeben.
Mir ist wichtig, dass wir wissen, dass Bildung auch schon vor dem Kindergarten, sei dies in der Kita, der Spielgruppe, der Familie etc. passiert. Die Kinder sind neugierig, motiviert und lernen auf ihre oft unkompliziert unstrukturierte Art eine Menge. In vielen Kindergartenlehrplänen geht es darum in erster Linie um die Schulung der Basisfunktionen (Motorik, Wahrnehmung, Kognition, Sprache, Emotionalität und Soziabilität) - zu den Basisfunktionen empfehle ich folgende Literatur: Niedermann, Albin, Meisel-Stoll Mirjam, Sahli Caroline, Zeltner Urs (2006): Heilpädagogische Unterrichtsgestaltung . Ein Studienbuch zur Förderdiagnostik Basisfunktionsschulung, Klassenführung.In diesem Zusammenhang werden natürlich oft Vorbereitungen für Mathematik und Sprache gefördert. Hier kann ich Ihnen von E. Moser-Opitz den Heilpädagogischen Kommentar zum Zahlenbuch 1 empfehlen (wo es nicht ums Rechnen geht) und den Artikel von Elisabeth Moser-Opitz (2006): Förderdiagnostik, Entstehung - Ziele - Leitlinien - Beispiele in : Grossnig Meike, Peter-Koop Andrea (Hrsg.) Die Entwicklung des mathematischen Denkens in KIndergarten und Grundschule, s. 10 -28.
Für die phonologische Bewusstheit sind die Lezus Programme (per Internet zugänglich) eine gute Möglichkeit, um Übungen in der Gruppe zu machen (nicht nur für DAZ) - einfach nicht länger als 20 Minuten.
Im Psychomotorischen Bereich finde ich das RAum-Zeit-Inventar von Dietrich Eggert sehr spannend. Nun aber noch einige weiterführende Gedanken - falls Sie Interesse haben. Meines Erachtens besteht im Kindergarten rasch die Gefahr, dass wir Einzelfertigkeiten abchecken, üben und erwarten und dabei vergessen, dass für einen selbstbewussten Lerner umfassendere Voraussetzungen nötig sind. Die Ressourcen sollten im Vordergrund sein und unser Blick nicht an Defiziten haften. Hier finde ich persönlich den Ansatz von Margaret Carr (Professorin aus Neuseeland) sehr spannend. In ihrem Ansatz geht es darum, Lernprozesse von Kindern zu beobachten und mittels der 5 Lerndispositionen zu interpretieren und beurteilen. Für weitere Impulse wichtig ist die Zone der nächsten Entwicklung. Die fünf Lerndispositionen sind nach Carr zentrale Fertigkeiten die zeitlebens gute Lerner ausmachen:
Es sind dies- interessiert sein, - engagiert sein - sich ausdrücken und mitteilen - standhalten bei Herausforderungen und Schwierigkeiten - an einer Lerngemeinschaft mitwirken und Verantwortung übernehmen. Es würde jetzt zu weit führen, Ihnen alle Aspekte der ‚learning stories‘ aufzuschreiben - vielleicht habe ich Sie aber neugierig gemacht? Hier weitere Literatur zu diesen Gedanken.
Leu H.R. Remsperger, R. (2004): Bildungsarbeit in der Praxis, Beobachtungsverfahren zu curricularen Vorgaben, In: Wehrmann, I. (Hrsg.); Kindergärten und ihre Zukunft s. 167 - 180
Carr, M. (2001): Assessement in Early Childhood Settings, Learning stories
May, H. Carr, M. Podmore, V (2004): Te Whariki: Neuseelands frühpädagogisches Curriculum ( 1991 - 2001) In; Fthenakis, W.E. Oberhuemer, P (Hrsg.) Frühpägdaogik international, Bildungsqualität im Blickpunkt.
Ich hoffe, dass Sie aus meinen Ausführungen Antworten auf Ihre Frage bekommen habe und wünsche Ihnen weiterhin viel Freude als IF. Mit freundlichen Grüssen lumpaz
Elisabeth Moser Opitz und Cornelia Sahli habe ich selber im Studium erlebt und auch gelesen.
Andere Literaturangaben sind neu und werde ich sorgfältig studieren.
Grundsätzlich schlägt mein Herz auch ressourcenorientiert und inklusiv.
In meinem Falle erwarten die Kindergärtnerinnen von mir eine Erfassung, die ihnen einerseits eine Bestätigung für ihre Wahrnehmungen gibt, andererseits aber auch als Diskussionsgrundlage für Elterngespräche dienen kann, damit eine besondere Förderung durch mich als IF eingeleitet werden kann.
Eine Kollegin hat mir den DESK als Erhebungsinstrument vorgeschlagen. Was hältst du davon? Kennst du es?
Konkret:
Bei einer Erfassung im Kindergarten sollte ich mir erst mal Zeit nehmen, die Situation des Kindes in der Gruppe wahrzunehmen. Dabei gilt es, mit einem offenen Blick aus der Situation des Kindes heraus Erfahrungen zu sammeln.
In einem weiteren Schritt könnte ein Erhebungsinstrument eingesetzt werden.
Was meinst du zu diesem Vorgehen?
Wie würdest du dieses Thema angehen?
liebe Malena
eben habe ich gesehen, dass Du auf meine Anregungen bereits reagiert hast - herzlichen Dank! Gehe ich richtig mit der Vermutung, dass Du im Grunde ganz gut weisst, wie Du gerne arbeiten möchtest, bzw. was Dir wichtig ist und nun mit der Forderung nach ‚Diagnostik‘ etwas überrumpelt bist? Kann es sein, dass es sinnvoller ist, Dich auf dem Weg, Deinen Weg zu gehen, zu bestärken, als Dir noch x-beliebige Instrumente anzugeben?
Ich habe gestern mit einigen sehr erfahrenen Pädagoginnen und Pädagogen ausgetauscht und diese haben bestätigt, dass es wichtig ist, im Kindergarten - genauso, wie Du übrigens schreibst - zu beobachten, attraktive Lernumgebungen zu gestalten und den Kindern einen vielfältigen und vielseitigen Zugang zum Lernen zu ermöglichen. Wichtig ist, dass wir dabei gemeinsam herausfinden, wie das einzelne Kind optimal lernt, Zugang zu finden zu seiner Art, Dinge zu entdecken, Zusammenhänge herauszufinden und die gemachten Erkenntnisse in anderen Kontexten wieder anwenden zu können. Dabei ist die Kraft der Nachahmung in diesem Alter noch sehr stark und die Kinder lernen gerne am Modell.
Ich bin überzeugt, dass Du mit den Instrumenten, die wir diskutiert haben, gut ausgerüstet bist! DESK, bzw. die Anwendung kenne ich persönlich nicht - vielleicht kann sich hier jemand anderes, der Erfahrung damit hat, einloggen und seine Gedanken mitteilen?
Ich weiss nun nicht, ob Du im Kanton Bern tätig bist - hier ist es ja nach wie vor so, dass konkrete Abklärungen von der EB durchgeführt werden. Ich möchte Dir Mut machen, Beobachtungen die Du und die Kindergärtnerinnen machen, zu diskutieren, zu überlegen, wie die Ressourcen gestärkt werden können (Lernumgebung) - evt. ab und an in Einzelarbeit mit Dir (sinnvollerweise aber in Kleingrüppelis) und erst in einem zweiten Schritt, wenn ihr im Kontext von vielen Beobachtungen und Situationen und Gesprächen mit Eltern, das Gefühl habt, da stimmt wirklich etwas nicht, weitere diagnostische Schritte (z.B. EB) einzuleiten. Ich möchte Dir Mut machen, Dich nicht als Diagnostikerin instrumentalisieren zu lassen - sondern als jene, die Unterricht, Lernumgebungen etc. mitverantwortet, mitstützt und als Teampartnerin Beobachtungen einbringt und mit den betroffenen Kindergärtnerinnen austauscht und weitere Schritte entwickelt. Vertraut primär in eurem Alltag auf die Fülle eurer Beobachtungen, die Handlungen und Problemlösungen der Kinder in Situationen und nicht auf ein Punktesystem eines Diagnosebogens.
Ich habe übrigens im Zusammenhang mit Deiner Anfrage im Internet ein wenig recherchiert und bin auf einen interessanten (zwar auf Deutschland bezogenen) Artikel gestossen, der von Tassilo Knauf und Elke Schubert verfasst wurde und im online Kindergartenpädagogik Handbuch von Martin R. Textor zu finden ist. Die beiden Autoren befassen sich mit dem Übergang Kindergarten Grundschule und entwickeln Lösungsansätze, die bedenkenswert sind. www.kindergartenpaedaogik.de/1321.html. Ich hoffe dass Du gestärkt den Dialog mit deinen Kolleginnen suchen magst und im gemeinsamen Austausch Rollenklarheit schaffen kannst.
Liebe Grüsse lumpaz
Lumpaz,
danke für die Antwort und die hilfreichen Anregungen.
Wie stelle ich es an, wenn ich für 16 Lektionen angestellt bin:
Nach vier Wochen liegen auf meinem Schreibtisch (und an meinem Herzen):
13 Kinder mit einer Zuweisung von der EB.
6 Kinder mit einer Kurzintervention.
2 Lektionen Klassenprojekt / Woche an einer schwierigen Klasse.
5 Anfragen von Lehrkräften (einzelne Kinder oder die Klasse betreffend)
1 Anfrage nach einem Klassenprojekt (2 Lektonen / Woche)
1 Anfrage, Strategietraining für alle Unterstufenlehrkräfte
Wenn ich alle Kinder in ihren Klassen begleiten würde bliebe mir wohl nur eine Warteliste zu führen, und das will ich nicht.
Ich habe mich entschieden, die Kinder in Gruppen ausserhalb der Klasse zu begleiten, um möglichst vielen Anliegen gerecht zu werden.
Bei Klassenprojekten gibt es halt doch eine Warteliste.
Strategietraining und ähnliche Projekte versuche ich durch beigezogene Fachpersonen im Rahmen der internen Weiterbildung an die SL zu delegieren.
liebe Malena
ich danke Dir für Deine intensive Auseinandersetzung mit Deiner Aufgabe. Deine Not teilst Du mit vielen Lehrkräften und IF Fachpersonen, die momentan neu in diesen Bereich einsteigen! Das mag ein schwacher Trost sein, gell. Ich finde es sehr gut, dass Du die Frage öffnest und lade alle, die Dir gute, praktische Tipps geben können, ein, sich einzuloggen und Dir zu antworten. Ich finde es gut, dass Du Deine Aufgaben sortierst und überlegst, was Du, z.B. an die Schulleitung delegieren kannst, habe ich doch schwer den Verdacht, dass es sich bei Deiner Schule auch um eine Schule handelt, die sich erhofft, dass mit der Einstellung einer Heilpädagogin Integration von selber einstelle. Ich kann das sogar verstehen, denn es war wenig (Vorlauf)zeit, sich in einem Kollegium konstruktiv mit Heterogenität zu befassen, eine gemeinsame Haltung zu entwickeln. Vielleicht gelingt es Dir, die Schulleitung und das Kollegium zu motivieren, in diesen gemeinsamen Prozess einzusteigen? Es ist nicht zu spät! Wichtig ist, dass nicht die Illusion da ist, Du würdest dann schon alles ‚richten‘ - das ist unmöglich! Gemeinsam Schritt für Schritt ! Alle - von der Schulleitung über alle Kolleginnen und Kollegen helfen mit, eine für die Kinder sinnvolle Lernumgebung zu schaffen, auch für jene Kinder, die bereits Förderbedarf aufweisen.
Ich möchte Dir Mut machen, klärende Gespräche über Erwartungen und Möglichkeiten mit Schulleitung und Kollegium und evt. anderen IF zu führen und realistische, von SL, LP und Dir getragene und verantwortete Verträge abzuschliessen. Es wäre schade, wenn Du Dich vor lauter Druck nur noch schlecht fühlst und an Dir zweifelst. Du kannst schlicht die Aufgabe nicht im Alleingang bewältigen.
Liebe Grüsse lumpaz
Hallo Malena
Ui das tönt wirklich nach zu viel Arbeit. Ich würde mal bei der SL nachfragen, ob es noch freie Lektionen gibt welche dir zur Verfügung gestellt werden könnten (von unbesetzte Stellen, Notfalllektionen). Das ist mir schon mehr als einmal in einer ähnlichen Situation gelungen!
Im KG benutze ich meist folgende Literatur: Die Diagnostische Einschätzskalen (DES) von Karlheinz Barth. Dazu gehört das Buch „Lernschwächen früh erkennen“ ebenfalls von Karlheinz Barth. Ich habe Kindergärtnerinnen auch schon gezeigt, wie sie damit selbständig arbeiten können (ohne meine Hilfe) und zu einem guten Überblick kommen.
Viel Glück.
danke für den Hinweis!
Den Barth kenne ich ja, aber ich bin froh zu hören, dass ich damit arbeiten kann und nicht eventuell schon neue Ansätze verpasst hätte.
Und nun werde ich mich nach Möglichkeiten umsehen, um hier und dort noch Lektionen locker machen zu können. Du hast mich in dieser Richtung bestärken können, lieben Dank!