Fragen zu Leseverstehen-Vergleichsstudie

In einigen Zeitungen erscheint heute ein Bericht über eine Masterarbeit, welche die Fähigkeiten in Leseverstehen der Generation Bonne Chance gegenüber der Frühfranzösisch-Generation mit Mille Feuilles und Clin d’oeil verglichen hat.

Die Generation Bonne Chance soll darin besser abschneiden. Darüber werden viele unterrichtende Lehrpersonen staunen, die einen anderen Eindruck haben. Ich gehöre auch dazu.

Allerdings bin ich mit den Infos im Zeitungsbericht über 2 Dinge in der Studie gestolpert:

  1. Wieso wurde nur die Realstufe verglichen?
  2. Wieso waren die Bonne-Chance-Klassen in Klasse 9. während die Clin-d’oeil-Schüler in Klasse 8. waren?

Kennt jemand die Studie? Ist die online einsehbar? Oder kennt jemand die Autorin?

R_Morgy

Hallo
Meine Vermutung:

  1. Die Sek-Schüler können lernen, egal mit welchem Lehrmittel. Sie vernetzen besser als Real-Schüler.
  2. Es geht um die Anzahl von Lektionen, die die Schüler bis jetzt hatten, nicht um den Jahrgang.
    Ich hoffe es reicht so.
    Freundliche Grüsse
    Derborence
  1. Meiner Meinung nach kann man auch - stark vereinfacht - sagen, dass Mille-Feuilles-und-Clin-d’Oeil vor allem auf „gute Schüler“ zugeschnitten ist. Das hätte man bei der Erfassung meiner Meinung nach unbedingt berücksichtigen sollen, indem auch Sekschüler erfasst worden wären.

  2. Aus eigener Erfahrung als Lehrperson weiss ich, dass die Entwicklungs-Schritte zwischen 8. und 9. Klasse oft enorm sind. Nebst einer Erfassung nach der gleichen Anzahl Unterrichs-Lektionen (offenbar wie geschehen) müssten unbedingt auch die gleichen Klassen verglichen werden.

R_Morgy

Liebe/r R_Morgy

Ich verstehe gut, dass der ganze Medienrummel um die Resultate dieser „wissenschaftliche Studie“ verunsichert, auch wenn sich deine eigenen Erfahrungen als Lehrperson davon unterscheiden. Die Masterarbeit von Susanne Zbinden wurde seit ihrer Erstellung im Herbst 2017 stark verbreitet, insbesondere auch von der Autorin selber, und sie wurde von Reformgegnern bereitwillig aufgenommen, weil sie deren Kritik am „neuen“ Fremdsprachenunterricht und dem Französischlehrmittel zu bestätigen scheint.

Zu deinen zwei Fragen:
„Weshalb wurde nur die Realstufe verglichen?“
Susanne Zbinden begründet den Entscheid, nur SchülerInnen von Realklassen auszuwählen, damit, dass diese „gleiche kognitive Fähigkeiten“ aufweisen und die Ergebnisse damit vergleichbar wären. Was sie genau unter „kognitiven Fähigkeiten“ versteht und ob diese pauschal bei RealschülerInnen gleich sind, bleibt offen.

„Wieso waren die Bonne-Chance-Klassen in Klasse 9. während die Clin-d’oeil-Schüler in Klasse 8. waren?“
Der von ihr gewählte Zeitpunkt war die letzte Möglichkeit, Bonne-Chance-Schüler mit Clin d’oeil Schüler zu vergleichen, da ab dem Schuljahr 17/18 offiziell alle Klassen nur noch mit Clin d’oeil arbeiten, und man hat ja im gleichen Schuljahr nie beide Lehrmittel parallel, also war ein Vergleich im Kanton Bern mit z.B. SchülerInnen nur der 9. Klasse nicht möglich, da diese alle mit dem gleichen Lehrmittel (bis Sommer 17 mit Bonne Chance, ab Sommer 17 mit Clin d’oeil) arbeiten. Sie führt zudem an, dass die von ihr verglichenen SchülerInnen über die exakt die gleiche Anzahl verflossener Lektionen (588) verfügten. Sie erwähnt jedoch nur in einem Satz im Fazit eine andere mögliche Einflussquelle für das unterschiedliche Abschneiden der von ihr untersuchten Schülerinnen, nämlich die unterschiedliche Erfahrung der Lehrpersonen mit den beiden Lehrmitteln: Die von ihr getesteten Clin d’oeil-SchülerInnen waren der allererste Jahrgang, der mit dieser neuen Methode arbeitete, und deren Lehrpersonen wendeten dieses Lehrmittel im Unterricht zum ersten Mal an - dies im Vergleich zu den Klassen, deren Lehrpersonen über eine langjährige Praxis mit Bonne Chance verfügten und das Lehrmittel entsprechend optimiert hatten. Zudem macht ein Jahr in diesem Alter (also 8. vs 9. Klasse) einen grossen Unterschied, wie du es in deinem Beitrag bereits erwähnt hast und aus eigener Erfahrung bestätigen kannst.

Zum Abschluss noch eine kurze Einordnung der Arbeit:
Es handelt sich bei dieser „Studie“ nicht um ein breit abgestütztes Forschungsprojekt, sondern „nur“ um eine Masterarbeit, d.h. die erste grössere Arbeit einer Studentin/eines Studenten mit dem Ziel, dass diese/r eine Forschungsfrage selbständig erarbeitet. Sowohl die wissenschaftliche Erfahrung der Person als auch deren Ressourcen sind entsprechend eingeschränkt. Die Autorin erwähnt deshalb auch in ihrem Fazit diverse methodische Vorbehalte, welche die von ihr suggerierten Schlussfolgerungen relativieren. So können die Unterschiede zwischen den beiden Gruppen in den Leseverstehensleistungen zahlreiche Ursachen haben, unter anderem auch die mangelnde Kontrolle von Störvariablen. Aus diesem Grund sind die Interpretationen der Autorin nicht angemessen, und es wäre nicht zulässig, diese als Basis für allfällige politische Entscheide grösserer Tragweite zu verwenden.

Ich hoffe, dass dir diese Ausführungen weiterhelfen und wünsche dir weiterhin viel Erfolg im Unterrichten mit Clin d’oeil.

coccinelle

Vielen Dank für die Ausführungen und Erklärungen, welche die Aussagekraft der Studie besser einordnen lassen.

R_Morgy