Liebe/r R_Morgy
Ich verstehe gut, dass der ganze Medienrummel um die Resultate dieser „wissenschaftliche Studie“ verunsichert, auch wenn sich deine eigenen Erfahrungen als Lehrperson davon unterscheiden. Die Masterarbeit von Susanne Zbinden wurde seit ihrer Erstellung im Herbst 2017 stark verbreitet, insbesondere auch von der Autorin selber, und sie wurde von Reformgegnern bereitwillig aufgenommen, weil sie deren Kritik am „neuen“ Fremdsprachenunterricht und dem Französischlehrmittel zu bestätigen scheint.
Zu deinen zwei Fragen:
„Weshalb wurde nur die Realstufe verglichen?“
Susanne Zbinden begründet den Entscheid, nur SchülerInnen von Realklassen auszuwählen, damit, dass diese „gleiche kognitive Fähigkeiten“ aufweisen und die Ergebnisse damit vergleichbar wären. Was sie genau unter „kognitiven Fähigkeiten“ versteht und ob diese pauschal bei RealschülerInnen gleich sind, bleibt offen.
„Wieso waren die Bonne-Chance-Klassen in Klasse 9. während die Clin-d’oeil-Schüler in Klasse 8. waren?“
Der von ihr gewählte Zeitpunkt war die letzte Möglichkeit, Bonne-Chance-Schüler mit Clin d’oeil Schüler zu vergleichen, da ab dem Schuljahr 17/18 offiziell alle Klassen nur noch mit Clin d’oeil arbeiten, und man hat ja im gleichen Schuljahr nie beide Lehrmittel parallel, also war ein Vergleich im Kanton Bern mit z.B. SchülerInnen nur der 9. Klasse nicht möglich, da diese alle mit dem gleichen Lehrmittel (bis Sommer 17 mit Bonne Chance, ab Sommer 17 mit Clin d’oeil) arbeiten. Sie führt zudem an, dass die von ihr verglichenen SchülerInnen über die exakt die gleiche Anzahl verflossener Lektionen (588) verfügten. Sie erwähnt jedoch nur in einem Satz im Fazit eine andere mögliche Einflussquelle für das unterschiedliche Abschneiden der von ihr untersuchten Schülerinnen, nämlich die unterschiedliche Erfahrung der Lehrpersonen mit den beiden Lehrmitteln: Die von ihr getesteten Clin d’oeil-SchülerInnen waren der allererste Jahrgang, der mit dieser neuen Methode arbeitete, und deren Lehrpersonen wendeten dieses Lehrmittel im Unterricht zum ersten Mal an - dies im Vergleich zu den Klassen, deren Lehrpersonen über eine langjährige Praxis mit Bonne Chance verfügten und das Lehrmittel entsprechend optimiert hatten. Zudem macht ein Jahr in diesem Alter (also 8. vs 9. Klasse) einen grossen Unterschied, wie du es in deinem Beitrag bereits erwähnt hast und aus eigener Erfahrung bestätigen kannst.
Zum Abschluss noch eine kurze Einordnung der Arbeit:
Es handelt sich bei dieser „Studie“ nicht um ein breit abgestütztes Forschungsprojekt, sondern „nur“ um eine Masterarbeit, d.h. die erste grössere Arbeit einer Studentin/eines Studenten mit dem Ziel, dass diese/r eine Forschungsfrage selbständig erarbeitet. Sowohl die wissenschaftliche Erfahrung der Person als auch deren Ressourcen sind entsprechend eingeschränkt. Die Autorin erwähnt deshalb auch in ihrem Fazit diverse methodische Vorbehalte, welche die von ihr suggerierten Schlussfolgerungen relativieren. So können die Unterschiede zwischen den beiden Gruppen in den Leseverstehensleistungen zahlreiche Ursachen haben, unter anderem auch die mangelnde Kontrolle von Störvariablen. Aus diesem Grund sind die Interpretationen der Autorin nicht angemessen, und es wäre nicht zulässig, diese als Basis für allfällige politische Entscheide grösserer Tragweite zu verwenden.
Ich hoffe, dass dir diese Ausführungen weiterhelfen und wünsche dir weiterhin viel Erfolg im Unterrichten mit Clin d’oeil.