Liebe Anjetta,
die Zusammenarbeit zwischen Eltern eines - in Deinem Fall offenbar - behinderten Kindes und Fachpersonen, ist ein interessantes und sehr komplexes Themenfeld. Es gibt dazu nicht viele Forschungen und Publikationen, die existierenden sind dafür aber recht aufschlussreich. Du findest entsprechende Hinweise am Ende meiner Antwort.
Zunächst eine kleine Frage: Mir ist nicht ganz klar, was Du meinst, wenn Du schreibst, das Kind habe von Geburt an IV. Heisst das, es liegt bereits eine IV-anerkannte Diagnose vor und nun werden weitere Abklärungen bei der EB eingeleitet? Ich gehe jetzt einmal davon aus und antworte in diesem Sinne.
Ich entnehme Deiner Schilderung, dass sich die Zusammenarbeit, die Du aktuell erlebst, als sehr herausfordernd für Dich/Euch darstellt, es erscheint z.B. schwer nachzuvollziehen, warum die Eltern die Behinderung ihres Kindes nicht offengelegt haben. Du vermisst vor allem Vertrauen. Aus Deiner Perspektive kann ich das gut nachvollziehen. Doch wie sieht die Situation aus dem Blickwinkel der Eltern aus?
Als Eltern ein Kind mit einer Behinderung zu begleiten, bedeutet häufig schmerzhaft Abschied von bestimmten Erwartungen und Träumen in Bezug auf dessen Entwicklung, das Zusammenleben in der Familie und die Gestaltung der eigenen Zukunft nehmen zu müssen. Dieser Prozess kann sehr anstrengend sein und braucht viel Zeit oder ist unter Umständen nie abgeschlossen. Es kann bedeuten, plötzlich für Etwas zuständig zu sein, wofür sich Mutter und Vater gar nicht kompetent fühlen. Mit einer Diagnose für das eigene Kind konfrontiert zu werden, löst nicht selten phasenweise Auflehnung gegen „das Urteil“ der Ärzte oder Psychologen aus. Die Eltern denken vielleicht, das stimmt doch alles nicht, was mir die Fachleute da einreden wollen, denen beweisen wir jetzt das Gegenteil. Vielleicht haben also die Eltern in deinem Fall die Diagnose verschwiegen, weil ihnen so ähnliche Gedanken durch den Kopf gehen. Möglicherweise möchten sie ihr Kind aber auch auf diese Weise beschützen, sie fürchten unter Umständen, dass es sich nachteilig auswirken könnte wenn sie „die Karten gleich auf den Tisch legen“.
Wie auch immer, zu entscheiden, was für das eigene Kind das Beste ist, haben wohl schon viele Eltern als grosse Herausforderung erlebt. Ich stelle mir vor, dass die diesbezüglichen Anforderungen an Eltern eines Kindes mit einer Behinderung noch viel grösser sein können.
Ich arbeite sehr viel mit Eltern zusammen, die mit ein Kind mit einer Behinderung zusammen leben. Mir hat in diesem Kontext sehr geholfen, immer davon auszugehen, dass diese Eltern gute Gründe für ihr Verhalten haben und in erster Linie zum Wohle ihres Kindes handeln, auch wenn das auf den ersten Blick aus unserer Sicht nicht so scheinen mag.
Die Eltern, von denen Du berichtest, wollen vermutlich nicht Dich/Euch angreifen oder ausspielen. Ich nehme eher an, dass Sie sich selber in höchstem Masse durch die Situation in der sie stecken bedroht fühlen und wahrscheinlich grosse Angst haben, dass sich die Dinge nicht im Interesse ihres Kindes entwickeln.
Was diese Überlegungen wohl bei Dir auslösen? Könnte es vielleicht sinnvoll sein, zusammen mit den Eltern fachliche Beratung beizuziehen, um die Situation zu entspannen?
Vielleicht höre ich wieder von Dir. Es würde mich freuen.
Liebe Grüsse
Adhei
Literatur:
Eckert, A. (2002). Eltern behinderter Kinder und Fachleute – Erfahrungen, Bedürfnisse, Chancen. Bad Heilbrunn: Klinkardt
Eckert, A., Sodogé, A. & Kern, M. (2012). Zusammenkommen ist ein Beginn, Zusammenarbeiten ein Erfolg. Kriterien für eine gelingende Zusammenarbeit von Eltern und sonderpädagogischen Fachkräften im schulischen Kontext. Sonderpädagogische Förderung heute, 27 (1), 76-90
Kern, M.; Sodogé, A.; Eckert, A.(2012). Die Sicht der Eltern von Kindern mit besonderem Förderbedarf auf die Zusammenarbeit mit den heilpädagogischen Fachpersonen. Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik. Heft 10, S.36-42
Ziemen, K. (2003). Kompetenzen von Eltern behinderter Kinder. Frühförderung interdisziplinär, 22/1, S. 28-37
Ziemen, K. (2010). Kompetenzen von Eltern behinderter Kinder. [on-line verfügbar] http://www.assista.org/files/Ziemen-Vortrag.pdf: [Stand: 3.10.10]