Kind mit besonderen Bedürfnissen 3 Kl

Ich habe im letzten Sommer eine Stelle angetreten an einer 3./4.Klasse. Die Klassenlehrperson und ich teilen uns die Lektionen etwa halb/halb. Unsere Klasse ist gross (24 SuS), laut und unruhig (diverse SuS mit ADHS), unser Klassenzimmer ist recht klein (altes Schulhaus).

Eines unserer SuS hat schwierige familiäre Verhältnisse und lebt deshalb im Heim. Der Junge hat bereits einen Schulverweis hinter sich und diverse Lehrerwechsel - kein einfacher Schulstart. Es wird eine schwere Bindungsstörung bei ihm vermutet. Er könne sich aufgrund des Erlebten nur sehr schwer auf die Schule konzentrieren bzw. Wissen aufnehmen und abrufen. Er hat nun in diversen Fächern einen Nachteilsausgleich. Vor allen Dingen hat er aber sozial Schwierigkeiten. Es gibt immer wieder Konflikte zwischen ihm und den anderen SuS. Sich selbst und die anderen Kinder und deren Gefühle wahrzunehmen fällt ihm scheinbar schwer (er arbeitet mit einer Therapeutin daran).
Wenn es Streit gibt, rennt er davon, knallt Türen zu oder wirft Stühle um und schreit. Wenn ich versuche, mit ihm über Vorfälle zu reden, ist er oft nicht ansprechbar. Er dreht sich weg und antwortet auf keine meiner Fragen. Manchmal kommen auch freche Bemerkungen zurück. Er sagt immer wieder, er wolle nicht mehr in die Schule kommen. Das zeigt er auch, indem er fast jeden Tag eine halbe Stunde zu spät kommt, was ihm wiederum schulisch schadet, denn er verpasst dadurch vieles (Einführungen in neue Themen, Hausaufgaben eintragen usw.). Je nach Verfassung verweigert er dann auch, sich am Unterricht zu beteiligen.

Wir haben einige Zusatzlektionen erhalten, die der Klassenlehrperson und mir ermöglichen, zusammen zu unterrichten, um ihm mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Alleine arbeiten kann er nicht besonders gut.
Die Zusatzlektionen und die Hilfe der Heilpädagogin reichen jedoch nicht aus, um den Bedürfnissen des Kindes gerecht zu werden. Ich habe den Eindruck, der Junge ist überfordert, fühlt sich nicht wohl, erhält in unserer Klasse nicht das, was er braucht und die wiederkehrenden Konflikte machen es ihm schwer, sich in der Schule wohl zu fühlen und zu lernen. Auch die anderen SuS leiden unter der schwierigen Situation (bspw. warum sollten für ihn andere Regeln gelten als für ihn?). Einige SuS haben damit angefangen, bei Konlikten ähnlich zu reagieren wie er, was es für uns Lehrpersonen nicht einfacher macht, Konfliktsituationen zu lösen.

Für mich als frisch gebackene Lehrerin ist die ganze Situation sehr schwierig. Ich fühle mich der Situation nicht gewachsen. Ich weiss nicht weiter und frage mich, ob dem Jungen in unserer Klasse wirklich geholfen ist…
Mir ist unklar, wie die schulische Laufbahn des Jungen aussehen wird. Ich möchte für den Jungen mehr tun, weiss jedoch nicht was und wie. Die Situation ist für mich sehr kräfteraubend.
Was kann ich tun?

Liebe Wiesnermuriel

«Für mich als frisch gebackene Lehrerin ist die ganze Situation sehr schwierig. Ich fühle mich der Situation nicht gewachsen.» So leiten Sie Ihren letzten Abschnitt ein, der zur Frage führt, was Sie tun können. Wie kann im Rahmen einer Volksschulklasse mit einem Buben umgegangen werden, der offenbar von den Eltern weg in ein Heim musste, der bereits in der 3. Klasse einen Schulverweis erhalten hatte, viele Lehrerwechsel erlebte, in Therapie ist, um seine Bindungsstörungen zu heilen, die Schule verweigert und artikuliert, dass er nicht mehr in die Schule kommen will? Auch ich als erfahrener Lehrer wäre dieser Situation vermutlich nicht gewachsen.

Ich begrüssen den Integrationsartikel voll und ganz. Es gibt aber definitiv Grenzen der Tragbarkeit. Diese scheint im Fall des Buben aber überschritten zu sein. Sie fragen sich zu Recht, ob dem Jungen in Ihrer Klasse geholfen werden kann. Gleichzeitig spüren Sie, dass die Situation kräfteraubend ist. Kräfte, die Ihnen dann fehlen, mit den anderen 23 SuS zu interagieren. Und es besteht die Gefahr, dass Ihre Freude am Unterrichten schwindet.

Vermutlich ist es an der Zeit, einen Platz in einer Institution zu suchen, in der nur wenige Kinder pro Betreuungsperson unterrichtet werden. Wichtig ist, dass Sie für sich einstehen und der Schulleitung klar kommunizieren, dass Sie so nicht mehr lange unterrichten können.

Im Leitfaden «Disziplinarmassnahmen und Unterrichtsausschluss in den Volksschulen des Kantons Bern» finden Sie wichtige Informationen, um die nächsten Schritte einzuleiten.

Gerne können Sie sich auch bei einer Beratungsperson der Personzentrierten Beratung der PH Bern melden.

Ich wünsche Ihnen alles Gute für die nächsten Schritte.

Mit freundlichen Grüssen
Kashgar

Liebe Wiesnermuriel
Hier einige grundsätzliche Überlegungen zu Ihrer Situation: als Berufseinsteigerin erfahren Sie ein Schulsystem, das ganz klar überfordert ist mit der beschriebenen Situation. Der Knabe hat bereits eine schwierige persönliche Geschichte, die wohl nur mit individueller professioneller Begleitung angegangen werden kann/muss. Voraussichtlich über einen längeren Zeitraum. Eine heimtückische berufliche Situation, die von Ihnen verlangt, sich klar abzugrenzen und zu schützen.

Mit freundlichen Grüssen

jomali