In meiner Klasse ist ein Schüler (10 Jahre alt), dessen Vater an einer schweren Krankheit leidet, die ihn körperlich immer mehr einschränkt und unselbständiger werden lässt, ähnlich einer MS-Erkrankung. Der Vater lebt getrennt von seiner Familie. Der Schüler besucht ihn wochenendweise (in den Ferien sogar z.T. während einer ganze Woche), zusammen mit seinem um zwei Jahre jüngeren Bruder. Er spricht offen darüber, dass sein Vater im Rollstuhl sitzt und seine Kommentare lassen daraus schliessen, dass er seinen Vater sehr liebt und gleichzeitig sehr darunter leidet, dass sein Vater krank ist und die Krankheit fortschreitet. Ebenfalls leidet er darunter, dass sein Vater getrennt von der Familie lebt. So erzählte seine Mutter.
Nun hat mir die Mutter erzählt, dass der Junge wenn er beim Vater ist, vermehrt Aufgaben im Bereich der Körperpflege übernimmt, also z.B. Hilfe beim Gang zur Toilette oder ähnliches (obwohl professionelles Assistenzpersonal vor Ort wäre). Ich fragte nach, ob sie sicher sei, dass der Junge das möchte. Sie meinte daraufhin, das sei auch ihre Angst, ihre Bezugspersonen würden ihr jedoch immer wieder beruhigend versichern, dass sich der Junge selber melden würde, falls er diese Hilfestellungen nicht übernehmen möchte.
Mein Bauchgefühl sagt mir nun, dass es für einen 10-jährigen Jungen nicht angebracht ist, seinem Vater in dem Mass Hilfestellung zu geben und Aufgaben im Bereich der Intimpflege zu übernehmen. Ich gehe nicht davon aus, dass er es sagen würde, falls es ihm unangenehm ist, weil er wahrscheinlich denkt, dass das von einem „guten“ Jungen erwartet wird, und dies will er für seinen Vater unbedingt sein (dies schliesse ich aus seinen Erzählungen zu seiner Beziehung zu seinem Vater). Er steht kurz vor der Pubertät, ein Alter, in dem die Kinder sich gemäss normaler Entwicklung ungern nackt vor ihren Eltern zeigen bzw. ungern ihren Eltern nackt begegnen. Dies ist doch ein absolut ungünstiger Moment, um dem eigenen Vater in der Intimpflege Unterstützung zu geben und grenzt meiner Meinung nach sogar an Missbrauch?! Ich bin froh, um Expertenrat. Falls mein Bauchgefühl sich damit deckt, werde ich die Mutter erneut darauf ansprechen und ihr empfehlen, ihren Sohn dies nicht mehr tun zu lassen (sogar wenn er es wünscht?!) und ihn stattdessen bei seinem Vater in anderen Bereichen wie z.B. dem Haushalt Veranwortung übernehmen lassen - so wie es altersentsprechend auch sonst für ein Kind in dem Alter zunehmend passend ist, dass es im Bereich Haushalt mitanpacken lernt - unabhängig davon ob seine Eltern dazu in der Lage sind oder nicht.
Guten Tag Wanjiku
Die beiden Kinder erleben eine schwierige private Situation, in der sie sicher auf eine empathische Begleitung angewiesen sind. Gut, dass Sie hinschauen. Ob aber von Ihrer Seite her eine Handlung angemessen ist, bezweifle ich, mindestens an Hand Ihrer Schilderungen. Es bleiben für mich einige Fragen offen:
- Zeigt der Schüler in letzter Zeit ein verändertes Verhalten, das besorgniserregend ist?
- Wie unterstützt der Sohn seinen Vater genau? Vielleicht bringt er ihm nur die Seife, hält ihm die Türe auf… Das wiederum müsste die Mutter klären.
- Sie schreiben: „Ich gehe nicht davon aus, dass er es sagen würde, falls es ihm unangenehm ist…“. Was macht Sie so sicher, dass er sich nicht abgrenzen könnte, auch wenn er seinen Vater liebt? Warum fragt die Mutter ihn nicht einfach, ob er seine Hilfestellung gerne mache?
Und ein weiterer Gedanke: Offenbar will der Junge seinen Vater darin unterstützen. Eine erwachsene Person ist an Ort. Er wird also weder gezwungen noch scheint die Gefahr da zu sein, dass sexuelle Handlungen passieren könnten.
Je nach Familienkultur ist der Umgang mit Nacktheit völlig normal und Alltag. Dass sich dann in der Phase der Pubertät ein Jugendlicher davor zurückzieht, ist normal. Wichtig ist, dass er diese Möglichkeit hat.
Eher heikel finde ich, wenn Sie der Mutter empfehlen würden, „ihren Sohn dies nicht mehr tun zu lassen (sogar wenn er es wünscht?!)“. Diese Empfehlung entspricht nicht mehr der Rolle als Lehrperson und bringt Sie in Gefahr, sich zu sehr zu engagieren für Dinge, die in die Familie und in die Entscheidungsmacht der Eltern gehören. Sie können die Sorgen der Mutter ernst nehmen und ihr empfehlen, einige Punkte zu klären oder sich an die Erziehungsberatung zu wenden. Mehr nicht. Es sei denn, Sie beobachten Veränderungen im Verhalten des Buben…
Nun hoffe ich, dass Sie mit meiner Antwort etwas anfangen können. Ich wünsche Ihnen ein gutes Gespür im Umgang mit dieser Familie.
Mit freundlichen Grüssen
Kashgar
Besten Dank für Ihre schnelle Antwort. Das hilft mir, mich abzugrenzen und mich diesbezgl. nicht weiter zu engagieren.
Vielleicht trotzdem noch als kurze Ergaenzung: Der Junge zeigt seit ich ihn kenne, ein äusserst auffälliges Verhalten im Bezug auf seine Sozialkompetenz. Er tut sich sehr schwer darin, mit anderen Gleichaltrigen auf lockerer Basis in Kontakt zu sein und verwickelt sich häufig in Hänseleien, Streitereien, teilt verbal aus, reagiert aber sehr sensibel, wenn andere ihn provozieren. Deshalb schaute ich schon laenger genauer hin… und reagierte deshalb wohl auch sehr hellhoerig auf den Bericht der Mutter.
Aber wie Sie schreiben, es gehoert nicht in meinen Verantwortungsbereich und ich werde mich diesbezgl. nicht mehr aeussern, ausser die Mutter fragt mich ausdruecklich um Rat.
Herzlichen Dank für Ihr Feedback. Es freut mich zu lesen, dass Ihnen meine Antwort hilft.
Ob der Junge schon immer auffällig war? Auf jeden Fall wäre es für mich nicht überraschend, wenn sich die emotionale Belastung, die er aushalten muss - Trennung und miterleben, wie der Vater langsam abbaut - im auffälligen Sozialverhalten niederschlägt, vielleicht auch als Ventil… Es braucht sicher viel Verständnis und Mitgefühl, um als Lehrperson damit umgehen zu können.
Auch dafür wünsche ich Ihnen viel gutes Gelingen!
Mit freundlichen Grüssen
Kashgar
Guten Tag Wanjiku
Ihr Anliegen, Ihre Schilderungen und Ihre Überlegungen lösen bei mir einige Gedanken aus, die ich ihnen gerne noch mit auf den Weg geben würde.
Insgesamt kann ich mich sehr gut der Argumentation von Kashgar anschliessen.
Doch frage ich mich, ob Sie sich nun zwar mit Interventionsvorschlägen der Mutter gegenüber zurückhalten, aber den Gedanken, hier könnte es sich um Missbrauch des Kindes handeln, doch nicht ganz aus dem Kopf bringen? Falls dem so ist, wäre ja auch eine Option, dass Sie sich an eine spezialisierte Fachstelle, z.B. Lantana, wenden. Vielleicht kann ihnen das Wissen der Expertinnen bzw. Experten dienlich sein, um nicht mit dem Gefühl zurückzubleiben, den Schüler nicht angemessen unterstützt und geschützt zu haben.
Dann beschäftigt mich noch die Mutter. Sie berichtet ihnen, so entnehme ich es ihren Worten, immer wieder, von der belasteten Familiensituation. Könnte es hier hilfreich sein, sie zu fragen, ob sie froh um eine persönliche Beratung, z.B. durch eine Psychologin/einen Psychologen, wäre? Die Empfehlung, sich an die Erziehungsberatungsstelle zu wenden, bezieht sich ja primär auf die Situation des Sohnes. Mir scheint es nicht ganz unproblematisch, wenn sie in der Rolle einer zentralen Adressatin der Sorgen der Mutter bleiben. Das zwingt sie u.U. immer wieder zu Fragen Stellung zu nehmen, die gar nicht in ihren Zuständigkeitsbereich gehören.
Schliesslich frage ich mich, bezogen auf den Schüler, hat er Unterstützungsbedürfnisse, die nicht nur mit der belasteten Familienbeziehung in Zusammenhang stehen und wie kann in der bestehenden Situation seine Resilienz gestärkt werden? Sie beobachten ihn offenbar schon verstärkt und haben dadurch ja die besten Voraussetzungen schon geschaffen, um herauszufinden welche Faktoren präventiv wirken. Mich würde z.B. interessieren, unter welchen Bedingungen Kontakte zu den Mitschülerinnen und –schülern gelingen.
Vielleicht können diese Überlegungen einen Beitrag dazu leisten, eine gute Handlungsperspektive zu finden.
Freundliche Grüsse
Adhei