Vater hat Sohn geschlagen

Hallo

Ich bin Lehrerin an einer Oberstufe. In meiner Klasse gibt es einen Schüler, von dem ich weiss, dass er zu Hause geschlagen wird, wenn die Noten schlecht sind oder sonst Beanstandungen aus der Schule kommen. Ich weiss dies, weil sich der Schüler mir anvertraut hat, mich aber um Schweigepflicht gebeten hat. Es ist mir auch bewusst, dass es Schülerinnen und Schüler gibt, die solche Dinge einfach nur behaupten, um zu verhindern, dass man als LP die Eltern bei Problemen informiert.

Am vergangenen Dienstag ist es an meiner Schule zu einem Zwischenfall gekommen mit dem Bruder meines Schülers. Sein Verhalten war in meinen Augen so gravierend, dass ich mich gezwungen sah, dies der Schulleitung zu melden anstatt es unter vier Augen mit dem betreffenden Schüler zu klären.

Heute war Elterngespräch mit allen Beteiligten. Der Schüler hatte ein blaues und zugeschwollenes Auge. Er wirkte total verstört und eingeschüchtert. Der Vater blieb ruhig und sachlich. Die Schulleitung sprach sofort das Auge des Schülers an. Der Vater sagte, dass er die Kontrolle verloren hatte, als er erfahren hatte, was passiert war, so dass er die Fernbedienung des Fernsehers nach dem Sohn warf und ihn aus Versehen am Auge traf. Er bedaure dies zufiefst. (Ich glaube dem Vater kein Wort. Das verletzte Auge sieht ziemlich deutlich nach einem Schlag mit der Faust aus.)

Nach dem Gespräch habe ich mit der Schulleitung gesprochen, weil es mir miserabel ging. Er sagte, dass wir gar nichts tun können in solchen Fällen, wenn ein Kind nicht von sich aus den Vater beschuldigt und um Hilfe bittet.

Ich traf den Schüler nach dem Mittag vor der Schule und suchte das Gespräch mit ihm. Er sagte, er werde einen Arzt aufsuchen nach der Schule, um abzuklären, ob das Auge nicht geschädigt ist. Ich schöpfte Hoffnung und teilte ihm mit, dass er mit dem Arzt über alles reden könne, was ihn belaste, er stehe unter Schweigepflicht. Der Schüler teilte mir mit, er werde dem Arzt sicher nicht sagen, was passiert sei, dies sei eine Familienangelegenheit, er werde sagen, es sei beim Sport passiert. Ich fuhr fort, dass es doch nicht in Ordnung sei, was bei ihnen zu Hause laufe. Es wäre doch jetzt an der Zeit, dagegen etwas zu unternehmen und sich Hilfe zu holen. Der Schüler war so unheimlich ruhig, als ob man ihm die Seele aus dem Leib gerissen hätte. Er sagte dann, dass die Erziehungsmethoden seines Vaters schon ok wären. Sein Vater sei unfehlbar…

Ich musste gehen, weil ich die Tränen nicht mehr zurückhalten konnte. Ich fühle mich miserabel. Ich hatte heute sogar schon mehrfach den Gedanken, ob ich überhaupt noch ein Fehlverhalten melden soll bei Schülerinnen und Schülern, von denen ich weiss, dass es zu Hause nicht gut läuft.

Meine Fragen richten sich an die Experten hier und auch andere LP:

Wie gehe ich mit einem solchen Vorfall um?
Kann man da wirklich nichts machen und einschreiten, wenn ein Kind nicht von sich aus Hilfe sucht?

Traurige Grüsse

Calimero

Hallo Calimero
Oft ist es für eine Lehrperson emotional sehr schwierig zu ertragen, wenn der Verdacht besteht, dass ein Kind zu Hause missbraucht wird. Und selten ist es so offensichtlich wahrnehmbar, wie Sie es schildern. Ich verstehe gut, dass es Ihnen in dieser Situation miserabel geht und Sie sich überlegen, ob Sie überhaupt in Zukunft weitere Fehlverhalten melden werden.

Nach Rücksprache mit dem Juristen der LEBE kann ich Ihnen wie folgt eine Antwort geben:

Selten kommt es vor, dass ein missbrauchtes Kind seine Eltern „verrät“. Sie, Calimero, erleben viel mehr den Normalfall: Der Jugendliche nimmt seinen Vater in Schutz, spricht sogar davon, dass die Erziehungsmethoden schon ok wären. Die Gründe, die hinter diesem „In-Schutz-nehmen-Wollen“ liegen, sind vielfältig und aus der Kinderlogik heraus gesehen durchaus nachvollziehbar. Oft machen die Täter mit irgendwelchen Gründen Druck und erreichen dann, dass geschwiegen wird.

Damit verhindert wird, dass genau das über eine lange Zeit passieren kann, hat der Kanton einen „Leitfaden Datenschutz“ herausgegeben. Unter Punkt 8.1.2. „Meldungen an die Vormundschaftsbehörde“ steht folgendes:

„8.1.2. Meldungen an die Vormundschaftsbehörde
a) Meldepflicht

Lehrpersonen sind aufgrund ihrer Nähe zu den ihnen anvertrauten Schülerinnen und Schülern oft mit besonderen Beobachtungen über Verhaltensauffälligkeiten oder gar Gefährdungen von Kindern und Jugendlichen konfrontiert. Hegen sie den Verdacht, dass ihre Schülerinnen oder Schüler Opfer von Misshandlungen sind, ist es wichtig, genau hinzuschauen, zu beobachten und hinzuhören. Wichtig dabei ist, nicht hektisch und übereilt zu reagieren. Lehrpersonen sollten sich unbedingt Rat bei Fachstellen holen (z.B. beim Fil rouge Kindesschutz, Telefon 031 633 71 48, oder bei der Erziehungsberatung) und mit der Schulleitung über die festgestellten Probleme sprechen. Der «Wegweiser Kindesschutz BE» bietet eine hilfreiche Übersicht.
Wann immer möglich, sollen diese Beratungsgespräche anonym erfolgen. Dies ändert sich allerdings, sobald eine Gefährdung vorliegt. Eine solche ist gegeben, wenn die ernstliche Möglichkeit einer Beeinträchtigung des körperlichen, sittlichen oder psychischen Wohls des Kindes vorliegt oder vorauszusehen ist. Ist dies der Fall, muss eine Gefährdungsmeldung an die Vormundschaftsbehörde erstattet werden. Die Gefährdungsmeldung wird durch die zuständige Schulkommission verfasst. Um die hierfür nötigen Informationen zusammenzustellen, ist ein Informationsaustausch von allen relevanten Daten zwischen Lehrperson, Schulleitung und Schulkommission erforderlich und damit zulässig. Die Meldepflicht an die Vormundschaftsbehörde besteht auch für Schulärzte.“

Damit Sie sich emotional entlasten können, ist es vermutlich sehr wichtig, dass Sie handeln. Dieser Artikel stärkt Sie, einen Schritt zu machen, auch wenn Sie im Moment keine Unterstützung durch die Schulleitung erhalten. Damit Sie das Vorgehen überlegt und gewinnbringend angehen können, ist es ratsam, wenn Sie sich an eine Fachstelle wenden, die Ihnen massgeschneidert Auskunft geben kann. Diese Hilfe finden Sie beim Fil rouge (031 633 71 48) oder bei der Kinder- und Erwachsenenschutzbehörde Bern (031 635 20 00).

Nun wünsche ich Ihnen viel Kraft, diesen Weg zu gehen, damit Sie möglichst bald die Verantwortung an die richtigen Stellen übergeben können!

Mit freundlichen Grüssen
Kashgar