Liebe Forumsmitglieder,
Wie fördere ich folgendes Kind am Besten?
Welche Unterrichtsmaterialien könnt ihr mir empfehlen?
Problemstellung:
Ich begleite ein Kind, welches einen Migrationshintergrund hat.
Seine Eltern sprechen kaum Deutsch.
Das Kind selber kann sich mit seinen Mitschülern sehr gut verständigen.
Auch ich kann mich mit dem Kind in der Schriftsprache gut verständigen.
Trotzdem versteht das Kind nicht, was es gelesen hat.
Es kann Fragen zum Inhalt des gelesenen Textes nicht korrekt beantworten.
Es versteht die Frage nicht, oder kann keine Antwort auf die Frage geben.
Wenn ich mit dem Kind Wort für Wort des Textes übersetze, stelle ich fest,
dass es alle Worte verstanden hat.
Es scheint nicht am Wortschatz zu liegen.
Das Kind kennt alle Wörter und deren Bedeutung.
Trotzdem kann es sich keinen Reim daraus machen.
Frage:
Woran liegt dies?
Wie funktioniert dieser Prozess zwischen dem Verstehen von einzelnen Worten
und dem Erschliessen einer sinngebenden Aussage?
Ich verstehe diesen Prozess nicht.
Deshalb weiss ich auch nicht, wo ich ansetzen muss, um dem Kind zu helfen.
Ich wäre sehr froh, wenn mir jemand erklären könnte, worum es bei diesem Problem im Grunde geht.
Ich bin froh über alle Hinweise und danke euch schon jetzt für eure Anteilnahme!
Mit lieben Grüssen, Lalique
Liebe Lalique
Leider konnte dir noch keine Expertin antworten. Ich bitte dich um ein wenig Geduld, sicher wirst du in Kürze Informationen erhalten.
In der Zwischenzeit wünsche ich dir spannende Begegnungen mit deinen Schülerinnen und Schülern.
Liebe Grüsse
Kashgar
Liebe Lalique
Ihre Anfrage ist äusserst interessant, Ihre Diagnose und Ihr Diagnosevorgehen absolut richtig. Sie beschreiben einen Fall, wie er häufig vorkommt. Genau an dieser Hürde zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit scheitern viele fremdsprachige Kinder. Und die Lehrpersonen können es häufig nicht so präzis analysieren wie Sie.
Es ist oft ein ganzes Bündel, das diese Kinder zum Scheitern bringt:
- Sie haben zu wenig Weltwissen aufgebaut (reduzierte Kommunikation Eltern – Kinder, zu Hause wird nur über funktionale Dinge gesprochen: Geh ins Bett, iss diese Suppe etc.), es werden weniger Hobbys gepflegt, es gibt keine gemeinsamen Spaziergänge oder Ausflüge, es wurde keine Buchkultur aufgebaut.
- Die Sprache zu Hause reduziert sich auf wenig “Umfang“ und der Code ist oft nicht sehr elaboriert.
- Sie können die schulischen Anliegen nicht erfassen und verstehen den pädagogischen Approach von CH-Schulen nicht (anderes Schulverständnis: Schule= Drill und auswendig lernen, das wissen sie von ihren Eltern).
- Sie kennen sich vor allem in der Alltags-Mündlichkeit aus, diese funktioniert, wozu also die Lesekompetenz?
Aus der Sprachforschung weiss man, dass einzelne Wörter noch nicht genügen, um den Bezug dieser Wörter in einem Satzgefüge nachvollziehen zu können. Nomen geben grob das Thema an, steckt Wortfelder ab. Also z.B.: Velo, Strasse. Ob das Velo steht oder gefahren wird, wer das Velo fährt, wie, wann, wo, wozu und warum, ist nicht erkennbar. Dann fügen wir „fahren“ hinzu, also wissen wir, dass das Velo nicht auf der Strasse deponiert ist, sondern in Bewegung ist. Wer das Velo fährt, wohin ecc. wissen wir immer noch nicht. Hier braucht es Markierungen: ich, heute Abend, die konjugierte Verbform und das Velo im Akkusativ (oder „auf“ mit Dat.). Das ist ein einfaches Beispiel, um zu zeigen, wie viel Informationen in einem ganzen Satzgefüge stehen. Und das ist ein konkretes Beispiel und beschreibt einen Kontext, der vom Kind aus seinem Alltag heraus nachvollziehbar ist. Aber in der Schule geht es ja darum, dass die Kinder allmählich vom kontextualisierten Sprechen (also vom Alltagsgespräch: ich habe gestern einen Igel gesehen) auf eine abstraktere, generalisierte Ebene kommen (Igel leben …), also den Kontext wegdenken müssen. So sollte z.B. – frei erfunden - die Geschichte des kleinen Igel Luggi, der im Winter sein Futter auf dem Bauernhof von Habegger im Fankhauser Graben nicht finden kann, allmählich zum NMM-Text werden, in welchem DER IGEL als solcher beschrieben wird, also: Der Igel überwintert normalerweise ……und sucht sich sein Futtern in diesen Monaten ……). Die Schule macht nichts anders, als diesen Prozess in x Varianten zu schulen. Darum ist das Leseverstehen DER fundamentale Schulungsauftrag (vgl. PISA), wie Sie auch richtig sehen.
Wie könnte man vorgehen?
Auf der Satzebene: Satzverständnis: Mit kleinportionierten Fragen arbeiten: Wer macht was, wer sagt was, wo ist wer, wer gibt wem was etc. Dem Kind den Ausbau eines Satzes klarmachen: zuerst wer, dann was, dann wem, dann wo, dann wann etc.
Zu Beginn muss man das Kind mit einfachen Lesetechniken zum „richtigen“ Lesen bringen:
- Kleiner Text: Vorwissen aktivieren (worum geht es in diesem Text, hast Du Erfahrungen zu diesem Thema, wo kommen Igel vor etc.), welches sind meine Erwartungen an den Titel, Assoziationen.
- Gezielte Fragen von der LP: Kind muss wichtigste Informationen rauspicken (nicht mehr als 4 Fragen - Infos).
- Dann kann man zum eigenständigen Lesen übergehen: Das Kind muss selber 2 Infos rausholen (ohne Fragegeländer). Nachfragen: Sind das die wichtigsten Infos ?
Danach können komplexere Texte nach dem gleichen System aufgedröselt werden (z.B. warum, folglich, weil etc.).
Ich hoffe, meine Darstellung hilft Ihnen etwas weiter, sonst melden Sie sich wieder!
artemisia