Guten Tag Habakuk
Ich habe eine entsprechende Situation während eines Übertrittsgesprächs selber mal erlebt und kann Ihre Fragen und Unsicherheit gut nachvollziehen. Ich finde es auch gut, dass Sie den Jungen, den das ziemlich beschäftigt, und die Eltern ernst nehmen und unterstützen wollen.
Wenn ich die Situation reflektiere kommt mir ein Modell von Norbert Herschkowitz (Kinderarzt, Neurowissenschaftler und ehemaliger Leiter der Abteilung für Entwicklung und Entwicklungsstörungen an der Universitäts-Kinderklinik Bern) in den Sinn. Er hat in einem Vortrag unterschieden zwischen Emotion und Gefühl. Die Emotion sei eine (Körper)Empfindung, die man nicht bewusst steuern könne (rot werden, Hühnerhaut, Wut, Trauer, Glücksempfindung etc.). Man könne diese Emotion zwar nicht steuern aber man solle sie annehmen und sie als Information nutzen und „befragen“. Das Fühlen und Wahrnehmen sei die erste Verarbeitung dieser Information und das Denken sei in der Folge die Ordnung schaffende und interpretierende Verarbeitung dieser Information. Herschkowitz führte auch aus, dass Emotionen nur kurz dauernde Erscheinungen seien, die Gefühle und Gedanken, die wir dann daraus entstehen liessen, länger andauern würden und anhaltend wären.
Wichtig erscheint mir deshalb, dass wir uns nicht gegen die Emotion wehren, sondern sie als gegeben annehmen und zu „lesen“ verstehen. Tränen können von ganz verschiedenen Emotionen ausgelöst werden: Tränen der Wut/Ärger, Tränen der Trauer, Tränen der Freude, Tränen der Rührung, Tränen über Schmerz, Tränen wegen Stress und Erschöpfung, Tränen der Überforderung, Tränen aus emotionaler Überflutung.
In dem von Ihnen geschilderten Fall könnte es hilfreich sein, wenn man dem Kind zu verstehen gibt, dass es ganz in Ordnung ist, wenn man(n) weint. Das macht ja auch der Winnertyp Roger Federer immer wieder vor laufender Kamera. Es macht ihn m.E. sehr menschlich und sympathisch. Wenn der Schüler sich der Tränen nicht schämen muss (sie gar als Stärke sehen kann) wird es im zweiten Schritt einfacher zu sein, die Emotion als Informationsgeber zu verstehen, den Grund zu ergründen und dann zu überlegen, was als nächster Schritt sinnvoll sein könnte.
Für meinen Schüler waren die Tränen (also die Emotion) damals ein Gemisch aus Trauer über den bevorstehenden Klassen- und Schulortwechsel und der Rührung über die uneingeschränkte Aufmerksamkeit bzw. das „Im-Zentrum-des-Interesses-stehen“.
Welche Emotionen für Ihren Schüler im Spiel waren und was sie für ihn bedeuten, kann nur er selber herausfinden. Das gute und gesunde familiäre Umfeld, das Sie beschreiben und Ihre einfühlende und förderliche Art können ihm beim Suchen und Finden helfen. Wesentlich ist mir, dass man um das Geschehene nicht zu viel Aufhebens, also keine grosse Geschichte macht.
Die CD’s von Carsten Sommerskov kenne ich nicht. Ich bin der Meinung, dass Texte, die uns stärken und helfen, zu uns und unseren Emotionen zu stehen, grundsätzlich gut und hilfreich sind. Wenn sie zu Gesprächen führen, die dann wiederum mithelfen uns und andere besser zu verstehen, können sie wohl auch nicht schädlich sein.
Zur Ergänzung meiner Gedanken empfehle ich Ihnen einen aktuellen Artikel aus der SonntagsZeitung „Gefühle helfen uns, Probleme zu lösen“:
https://www.derbund.ch/sonntagszeitung/gefuehle-helfen-uns-probleme-zu-loesen/story/20653130
Mit freundlichen Grüssen
mars