Nähe und Distanz zu SuS

Guten Tag

Ich unterrichte eine Kleinklasse auf der Oberstufe (7. Schuljahr). Mir ist es gerade bei diesen SuS wichtig, intensiv auf der Beziehungsebene zu arbeiten. So gehen wir z. B. an keinem Tag im Streit auseinander, ohne das Problem geklärt zu haben. Oder die SuS vertrauen mir sehr private Sorgen aus ihrem Alltag an.

Ich denke, alle in der Klasse wissen, dass jede und jeder S mir sehr am Herzen liegt. Da ich ein sehr emotionaler Mensch bin, zeige ich meine Gefühle, die mit der Schule zu tun haben, auch ziemlich offen. Ich zeige es, wenn ich mich ganz besonders über eine gute Note gefreut habe. Ich spreche einen S aber auch sofort an, wenn mir etwas negativ auffällt.

Gerade vor den Frühlingsferien hatten wir ein Sportturnier, welches meine Klasse, die im Schulhaus als Kleinklasse stets belächelt wird, gewonnen hat. Wir haben uns alles so gefreut, dass zwei Jungs und ein Mädchen mich spontan umarmt haben. Für mich hat die Situation gestimmt.

Zwei andere LP, die dies beobachtet haben, haben jedoch gesagt, dass dies ganz klar ein Zeichen von zu wenig Distanz zu meiner Klasse wäre. Es sei schon oft vorgekommen, dass Nähe ins Gegenteil gekippt ist, gerade wenn es einmal Probleme mit der Klasse gebe, quasi „Frau X hat mich angefasst…“

Mir ist durchaus bewusst, dass solche Dinge passieren können. Jedoch bin ich sehr authentisch, so dass ich persönlich ein ziemlich sicheres Gefühl dafür habe zu wissen, dass meine SuS genau kennen, wie ich was meine und wo die Grenze ist.

Was meinen Sie? Darf man SuS grundsätzlich nicht berühren, also niemals auf die Schulter klopfen, um zu loben und zu ermutigen, etc.?

Danke für Ihre Antwort.

Guten Tag Calimero

Zuerst möchte ich Sie bestärken in Ihrer Haltung, dass die Beziehung zu Ihren Schülerinnen und Schülern wichtig ist. Sie bauen da auf ein erwiesenermassen wichtiges pädagogisches Element, das für das Lernen eine grosse Bedeutung hat.
Beziehungsfähigkeit und gute Beziehungen erscheinen als Konstante im aktuellen soziologischen, psychologischen und pädagogischen Diskurs. Wir sind – aus neurobiologischer Sicht – auf soziale Resonanz und Kooperation angelegte Wesen. Der Kern aller menschlichen Motivation besteht darin, zwischenmenschliche Anerkennung, Wertschätzung, Zuwendung oder Zuneigung zu finden oder zu geben (nachzulesen bei Joachim Bauer „Prinzip Menschlichkeit). Einen ausgezeichneten Überblick über diese Thematik sowie eine Fülle von Grundlagen und Modellen bietet auch das Standardwerk «Beziehungsdidaktik» von Reinhold Miller. Sie sind also sicher auf dem richtigen Weg und ihre Aussage „So gehen wir z. B. an keinem Tag im Streit auseinander, ohne das Problem geklärt zu haben“ ist ein nachahmenswertes Prinzip und zeugt von einer hohen Bewusstheit bezüglich Beziehungsgestaltung, Konfliktbearbeitung und Problemlösung. Es geht ja nicht nur darum, dass wir nicht nicht streiten, denn Meinungsverschiedenheiten gehören zum Zusammenleben. Es geht vielmehr darum, wie wir streiten bzw. unterschiedliche Meinungen austragen und ob wir das sozialverträglich hinkriegen, so dass es keine Verletzungen gibt.
Soviel zu Ihrer Einleitung.

Für Ihre eigentliche Frage bezüglich der Umarmung, die – wenn ich das richtig verstanden habe – grundsätzlicher Art ist und also nicht dringend, möchte ich noch weitere Abklärungen treffen. Ich denke, dass die Frage von allgemeinem Interesse sein kann und deshalb eine umfassende und fundierte Antwort verdient. Zudem gilt es m.E. abzuklären, welche rechtlichen Prämissen zu beachten sind.
Ich bitte Sie deshalb um ein paar Tage Geduld. Ich melde mich wieder.

Mit freundlichen Grüssen
mars

Danke für Ihre Geduld. Hier nun unsere Gedanken zu Ihrer Frage.
Ich möchte nochmals festhalten, dass ich es toll finde, wie differenziert Sie diese Frage refelektieren und wie Sie auch die Bemerkungen der Kolleginnen und Kollegen ernst nehmen. Es sind diese Bewusstheit, die Klarheit und Offenheit, die es ermöglichen, sich sachlich den anspruchsvollen Fragen von Nähe und Distanz zu nähern. Angesichts der Diskussion rund um sexuelle Übergriffe lohnt es sich, besonders aufmerksam zu sein.

Gerne halte ich einige allgemeine Gedanken zum Thema fest, die der inhaltlichen Einbettung und Strukturierung der Thematik dienen sollen. Folgende Aspekte sind zu bedenken:

Rollenverständnis
Die Lehrperson ist weder Kumpel, noch Pfadiführer, noch Polizist, noch . . . Das Rollenverständnis ist durch den gesetzlichen Auftrag, die beruflichen Aufgaben sowie das Lernverständnis, das (persönliche) Unterrichts- und Führungskonzept gegeben. Als professionell wird eine Balance zwischen einer respektvollen Distanz und einer auf Vertrauen beruhenden wertschätzenden Nähe betrachtet.

Subjektive Wahrnehmung
Nicht alle Kinder stecken ihre Grenzen gleich nahe bzw. weit, um eine Handlung als Übergriff ihrer Intimität zu empfinden, dasselbe gilt für die LP. Das Modell der sozialen Informationsverarbeitung besagt, dass je nach Biografie bestimmte Reize (hier geht es um körperliche Berührung) auf bestimmte Art und Weise interpretiert werden und entsprechende Reaktionen aktiviert werden. Dies ist u.a. ein Erklärungsmodell für die Subjektivität der Wahrnehmung von Nähe bzw. von Übergriffs- bzw. Bedrohungserleben. Gerade bei Jugendlichen ist es (auch für die Eltern) nicht immer einfach, zu verstehen, welche Bedürfnisse sie haben, da die persönliche Befindlichkeit labil ist.

Selbstwahrnehmung
Welche Qualität haben meine Emotionen und welche Motive leiten oder ver-leiten mich? Welche biographischen Erfahrungen beeinflussen mich? Wie nehme ich die Reaktion des Gegenübers wahr? Die eindeutige Beantwortung dieser Fragen ist zentral.

Eindeutige Kommunikation
Eindeutigen Handlungen und eindeutige Kommunikation (im Sport z.B. feste Griffe; bei Körperkontakt und in der Kommunikation im Unterricht z.B. eindeutige Blickkontakte) erleichtern die Deutung von Kontakten.
Öffentlichkeit: Findet ein Kontakt in der Öffentlichkeit statt oder im Geheimen? Muss etwas verheimlicht werden? Die Öffentlichkeit kann hier auch als ein gewisser Schutz verstanden werden.

Setting
In welchem Rahmen findet der Kontakt statt? Was z.B. im Sportunterricht u.U. nötig ist, sollte man im „normalen“ Unterricht nicht tun. Werden die Grenzen vorher und nachher eingehalten? Erfolgen die Berührungen spontan oder geplant? Werden nur einzelne Schülerinnen und Schüler berührt?

Wegleitend für diese Fragen sind die Standesregeln von LCH. Klare Aussagen findet man in Standesregel 10, implizite Angaben in 9 und 5. Sie können hier heruntergeladen werden:
http://www.lch.ch/dms-static/bc21d7a4-8299-4ece-bb0d-2f5a8c93bcf5/20080607_LCH-Berufsleitbild.pdf

Wenn Sie Ihren „Fall“ an den oben aufgezählten Aspekten spiegeln, werden Sie zu einer klaren und breit abgestützten persönlichen Einschätzung Ihrer Frage kommen. Es versteht sich damit aber auch, dass andere Personen auch eine andere Meinung haben und Betroffene dies nochmals anders sehen können. Ob eine Situation stimmig ist, entscheidet also vor allem die bestehende Beziehung und sie ist wohl auch verantwortlich, ob eine Situation später umgedeutet wird und so zu einem Konfliktfall werden kann.

Genau so kann auch die Aussage von den Kolleginnen unterschiedlich verstanden werden: Sind die Motive wertschätzend und sachbezogen oder steckt dahinter Missgunst oder gar Neid? Auf alle Fälle erscheint es uns eine grosse Chance, diese wichtige Frage anhand solcher Begebenheiten grundsätzlich im Kollegium zu diskutieren, zu klären und somit zu einer gemeinsamen Haltung zu kommen. Wir empfehlen das vom Heimverband herausgegebene Arbeitsbuch „Affektive Erziehung im Heim - Handeln im Spannungsfeld zwischen Pädagogik und Justiz (20077 Curaviva). In diesem Heft finden Sie unzählige Situationen (die nicht nur im Heim vorkommen) und Kommentare aus pädagogischer, bzw. juristischer Sicht. Das könnte ein gutes Arbeitsbuch sein, um im Kollegium das Thema von Nähe und Distanz zu besprechen und gemeinsam ein Konzept zu diesem Thema zu entwickeln und erarbeiten. Hilfreich könnte auch eine umfassende Darstellung der „Deutschen Gesellschaft für Prävention und Intervention bei Kindsmisshandlung und –vernachlässigung“ sein.
Vielleicht ist eine solche Auseiandersetzung im Kollegium nicht möglich oder erwünscht, dann rate ich Ihnen, Ihr persönliches pädagogisches Konzept schriftlich festzuhalten und mit der Schulleitung zu besprechen. So können Sie Ihr Handeln professionell begründen und sich damit auch absichern. Und Sicherheit und Verlässlichkeit ist das Öl im Getriebe jeder Beziehung. Und die Beziehung zu sich, zu anderen, zu Dingen und zu Inhalten ist eine wichtige Grundlage des Seins und des Lernens.
In dem Sinn wünsche ich Ihnen weiterhin viel Erfolg bei Ihrer Beziehungsgestaltung.

Mit freundlichen Güssen
mars

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