Oberflächliches Lesen von Aufträgen

Liebe Lehrpersonen

meine Beobachtung
Ich beobachte, dass schriftliche Aufträge oft nicht oder nur oberflächlich gelesen werden. Deswegen werden die Aufträge manchmal falsch oder ineffizient ausgeführt.
Das geschieht auch in Situationen, in denen die Schülerinnen interessiert daran sind, meine Erwartungen genauzu verstehen, iE Prüfungen. Ich beobachte, dass gerade bei Prüfungen manche Schülerinnen „losrennen“ trotz gebetsmühlenartigen Wiederholen meinerseits, dass man sich die Zeit nehmen soll, die Aufgabenstellung genau zu lesen. In der Prüfungsbesprechung ärgern sich diese Schüler*innen oft über ihre Herangehensweise, also scheint ein Verständnis des Zusammenhangs Auftrag genau lesen → Punkte bekommen vorhanden zu sein.

Ich habe ähnliches in mehreren Jahren S1- und S2-Unterricht immer wieder angetroffen und in Gesprächen mit Kolleg*innen den Eindruck gewonnen, dass das oberflächliche Lesen von Aufträgen weitverbreitet ist.

meine Erklärungsversuche
Komplexität und Länge der Aufgabenstellung haben einen Einfluss, sind aber mE nicht das Ausschlaggebende. Ich glaube, dass sich viele Schülerinnen lieber direkt mit dem Inhalt des Auftrags auseinandersetzen (was für meine Aufträge spricht :wink: ) als mit der Aufgabenstellung. Und ich glaube, dass viele Schülerinnen eine vage Vorstellung davon haben, wie der Auftrag zu erledigen ist und eher nach dieser Vorstellung handeln als nach dem tatsächlich vorliegenden Auftrag. Die vage Vorstellung hat vermutlich einiges mit den bisherigen Erfahrungen bezüglich Auftragsformen zu tun: „so wie immer“ anstatt „so wie’s im Auftrag steht“.
Übrigens; wenn ich Aufträge mündlich erläutere, klappt’s recht gut. Darum glaube ich nicht, dass es ein grundsätzliches Desinteresse o.ä. ist.

meine Fragen
Was sind eure Tricks?
Falls ihr ähnliche Beobachtungen macht; was sind eure Erklärungen?

Vielen Dank im Voraus!
Gruss,
AdiBlo

PS:
Ich hab’ beim Suchen nichts passendes entdeckt, das meine Frage abdeckt. Vielleicht waren meine Suchbegriffe „Lesen“ und „Auftrag“ zu wenig spezifisch :wink:

Guten Tag AdiBlo

Vielen Dank für deine interessante, wichtige und detailliert beschriebene Frage (eigentlich ist es ein Diskurs).

Es stimmt natürlich, dass sogfältiges Lesen (und Verstehen) die Grundlage für eine erfolgreiche Umsetzung ist. Das gilt generell, aber eben auch bei Aufträgen, deren Resultate oder Produkte summativ beurteilt werden. Und wie du selbst schon geschrieben hast; gerade in Testsituationen wollen die Lernenden möglichst schnell und viel produzieren und nicht allzu viel Zeit mit Interpretation der Aufgabenstellung verbringen.

Deine Deutung ist ebenfalls schlüssig. Ich denke auch, dass Lernenden nicht grundsätzlich unmotiviert sind, Aufträge genau zu lesen und ihnen durchaus die Bedeutung bewusst ist. Das sorgfältige Lesen müsste automatisch stattfinden, alle Elemente einer guten Aufgabenbearbeitung sollten verinnerlicht sein.

Und jetzt kommen wir zu den «Tricks». Natürlich gibt es, wie so oft, keine Patentrezepte. Und über einen Trick verfügt man ja in der Regel erst durch langes Üben, indem man geduldig ist immer wieder dasselbe macht.

Genaues Lesen und Verstehen ist einerseits anstrengend und zeitraubend, andererseits anspruchsvoll oder sogar sehr schwierig. Ich würde mich deshalb gern zu deinen Fragen auf zwei Ebenen begeben.

Methodische Ebene
Es scheint mir wichtig, dass die Lernenden das sorgfältige Lesen als wichtigen Teil ihrer Arbeit nicht nur wahrnehmen, sondern sondern dies eben in ihren Arbeitsverlauf eingebaut haben. Damit das geschieht, schlage ich (neben einem langen Atem) einige Massnahmen vor.

  • Das Lesen als Bestandteil der Arbeit immer wieder fokussieren und thematisieren: den Auftrag zuerst mit eigenen Worten umschreiben / die Hauptideen des Auftrags markieren / aus dem Auftrag eine Checkliste machen, die dann abgearbeitet werden kann / das Lesen und Verstehen auch als Leistung anerkennen (z.B. die genaue Erfüllung des Auftrags als Beurteilungskriterium mit einbeziehen) / vor der Realisierung des Auftrags eine «Verstehenskontrolle» mit entsprechendem Feedback durchführen
  • Mit Bezügen arbeiten: mit den Lernzielen verbinden (Bedeutung) / den Auftrag «auseinander nehmen» und mit Teilschritten der Realisierung verbinden / bekannte und allenfalls immer wiederkehrende Elemente des Auftrags heraussuchen und beschreiben / mögliche und erwünschte Lernerfolge benennen oder benennen lassen
  • Eine Planungsphase für die zu leistende Arbeit einbauen (nach der Lektüre des Auftrags); dies könnte auch Teil einer Testsituation sein
  • Feedbacks nach der Bearbeitung einholen; diese Reflexionen müssen explizit Bezug zum Auftrag und zur entsprechenden Umsetzung nehmen

Sprachlich-inhaltliche Ebene
Die sprachliche Bewältigung eines schriftlichen Auftrags ist natürlich Voraussetzung für die Erfassung des Inhalts und entsprechend für die erfolgreiche Bearbeitung. Genau diese Kompetenz muss also auch geübt werden. Je nach Kompetenzentwicklung oder muttersprachlichem Hintergrund der Lernenden braucht es diesbezüglich mehr oder weniger Support.

  • Einen komplexen Auftrag übersichtlich und gross geschrieben gliedern
  • Einen Auftrag als konkrete Abfolge von Teilschritten darstellen
  • Einen Auftrag sprachliche (nicht inhaltlich) vereinfachen; z.B. sehr kurze Sätze oder Satzfragmente
  • Zu einem Auftrag eine Art Glossar mitgeben, in dem Fremdwörter oder Handlungsanweisungen erklärt werden; dies kann auch für wichtige Begriffe der schulischen Bildungssprache gemacht werden (Was bedeutet genau «zusammenfassen», «skizzieren», «vermuten» etc.?)
  • Zuerst den Auftrag hinsichtlich Sprache bearbeiten lassen: unbekannte Begriffe markieren, verschiedene Elemente oder Phasen des Auftrags verbinden und mit unterschiedlichen Farben markieren, die wichtigsten Handlungselemente herausschreiben

Es ist ein grosses Thema und betrifft alle Aufträge. Bei den mündlichen Texten ginge es dann um das genaue Zuhören. Ich hoffe, die Ausführungen waren nicht zu lang und es gibt einige Impulse, die hilfreich sind.

Herzlich

Apostroph

@Apostroph:
Vielen Dank für deine Ausführungen!
Ich finde sie keineswegs zu ausführlich, sondern angenehm anschaulich.

Ich werde nun wohl bei den „neuen“ Klassen des kommendes Schuljahres die „Lese- und Planungsphase“ ausführlicher thematisieren.

Danke& Gruss,
AdiBlo

Hi AdiBlo

Ich habe recht gute Erfahrung gemacht damit, den SuS die ersten 5’ zum Lesen aller Aufträge zu geben, damit sie Fragen stellen können, wenn sie etwas nicht verstehen. Danach ist Ruhe und ich beantworte keine Fragen mehr.
Das hat zwei Vorteile:
Sie lernen, dass sie für Fragen aufmerksam lesen müssen.
Sie wählen Aufgaben zum Starten aus, die sie sicher können.

Ich habe das bisher noch nicht so genau angeleitet, aber vielleicht könnt ihr das als Strategie eintrainieren mit einer projizierten Checkliste? D.h. dass du jedes Mal zu Beginn während 5’ bei den Fragen dieses Ritual anwenden:

  • Lesen
  • Wesentliche Parameter, die zu beantworten sind, anstreichen
  • Aufgaben in individuelle Reihenfolge nummerieren

Lg
MiMiMa

Guten Tag AdiBlo
Vielen Dank für deine interessante Fragestellung.
Ich gebe dir keine Tricks, sondern versuche, deine Frage von einer andern Seite her anzugehen. Lesen und Schreiben sind wichtige Grundkompetenzen für die Lernenden. Die Wissenschaft geht heute davon aus, dass 15-20% der Lernenden beim Verlassen der Volksschule Probleme haben mit Lesen und Schreiben. Nach elf Jahren Unterricht. (Illettrismus). Sinnentnehmendes Lesen fällt nicht allen Schülerinnen und Schülern gleich leicht. Eine Kompetenz, die viel Übung und Begleitung verlangt, ein zeitaufwendiger Prozess, für den die Schule oft zu wenig Zeit hat. Optimal sind individuelle Förderungen, abgestimmt auf den individuellen Lernstand, möglichst ohne Beschämungen vor der Klasse. Es lohnt sich sehr, auf der Oberstufe Lernende zu erfassen und gezielt zu fördern. So wird auch ihr Selbstvertrauen gefördert.
Was du machen kannst: Texte mit unterschiedlicher Länge und unterschiedlicher Komplexität lesen lassen, mit Zeitangaben. Lernerfolge ermöglichen.
Mit deiner Frage sprichst du ein Thema an, das seit Jahren bekannt ist, mit dessen Lösung sich das Schulsystem sehr schwer tut. Lösungen sind möglich, mit zunehmendem Alter nehmen dann auch die Lernhemmungen zu. Deshalb: Je früher intervenieren, umso wirksamer.
Ich wünsche dir weiterhin interessante Beobachtungen.
Interessantes Video zum Thema: www.boggsen.ch

Herzlich

jomali