Vor einigen Jahren war ich als Lehrperson daran beteiligt, dass ein Schüler aus meiner Klasse in ein Heim kam. Grund in Kürze, soweit ich mich noch erinnern kann: Er war extrem auffällig introvertiert und wirkte wie ein tickendes Pulverfass. Er liess niemanden an sich heran, es war aber deutlich, dass er massive innere Not hat. Zusammen mit dem Sozialarbeiter, der die Familie des Jungen (er war vorher schon mal für ein halbes Jahr in einem Heim) schon längere Zeit begleitete, leitete ich ein, dass der Junge (damals kurz vor der Pubertät anfangs 6. Klasse) in ein Heim kam. Seine Familie hatte damals Mühe mit diesem Entscheid. Ich sah damals keine andere Möglichkeit, dem Jungen zu helfen, weil er sich wirklich sehr auffällig verhielt und es mir sogar gefährlich schein, ihn einfach so „weiterziehen“ zu lassen, obwohl er zu diesem Zeitpunkt keine grossen Disziplinprobleme machte.
In den letzten Jahren erhielt ich immer wieder mal eine Facebook-Nachricht von ihm. Zuerst harmlos im Sinne von „Wie geht’s?“ Darauf habe ich unverfänglich geantwortet. Vor einem Jahr schrieb er: „Jetzt längts. I bringe mi um.“ Darauf habe ich nicht geantwortet. Gestern schrieb er mir nun: „Sie sind schuld, dass ich 4 Jahre in einem Heim war. Obwohl die anderen auch viel Scheiss gemacht haben.“ Hoppla, ich interpretierte natürlich sofort, dass er nach wie vor keinen Frieden darüber hat, in einem Heim gewesen zu sein. Meine Phantasie ging mit mir durch und ich stellte mir vor, wie es wäre, wenn dieser Junge, der nun ein erwachsener Mann ist, mir in irgendeiner Weise nachstellen würde mit böser Absicht um mir „heimzuzahlen“ was ich ihm angeblich angetan habe - wenn ich also so zu sagen zu seinem Sündenbock würde, weil er nach wie vor mit dem Leben nicht klar zu kommen scheint. Für mich ein sehr ungemütlicher Gedanke. Ich sehe keine Handlungsmöglichkeit um abschätzen zu können wie ernst ich seine Anklage nehmen muss. Was würden Sie tun bzw. lassen? Auf Facebook hat er keinen Zugang zu meinem Account, er kann mir lediglich eine Nachricht aufs Mail schreiben von Facebook aus. Mit dem Löschen meines Accounts ist es nicht gemacht. MIt den heutigen Möglichkeiten kann er mich auch auf andere Art ausfindig machen, wenn er das will. Er war/ist ziemlich clever.
Guten Tag Wanjiku
Sie schreiben, dass Sie beunruhigt sind und Sie dieser Entscheid aus Ihrer beruflichen Vergangenheit wieder beschäftigt. Sie beobachten sich auch kritisch und erkennen, dass die Filme in Ihrem Kopfkino Ihre eigenen Phantasien wiederspiegeln.
Aus Ihrem Bericht lese ich, dass der Schüler den Kontakt zu Ihnen ganz unkompliziert und ohne Vorwürfe hin und wieder gesucht hat. Und dies trotz des für ihn einschneidenden Wechsels in ein Heim.
Von Ihrer Seite her wurde die Beziehung weniger bewusst gestaltet. Auf die Facebook-Nachrichten seinerseits haben Sie unverfänglich geantwortet, jedoch den Kontakt nicht bewusst abgeschlossen und beendet. Vor einem Jahr hat er Sie kontaktiert und eine Suiziddrohung ausgesprochen, darauf haben Sie nicht mehr geantwortet.
Für Ihren ehemaligen Schüler ist dies keine klare Botschaft. Ich kann mir vorstellen, dass diese erneute Kontaktaufnahme eine Fortsetzung dieser ungeklärten Beziehung ist. Er legt ein Stück Holz nach und fordert von Ihnen eine Stellungnahme.
Ich denke, es ist wichtig, dass Sie für sich klären, wie Sie diese Beziehung allenfalls weitergestalten oder beenden wollen.
Sie haben ganz unterschiedliche Möglichkeiten:
• nachfragen wie es ihm geht
• auf seinen Vorwurf eingehen und ihm aufzuzeigen, dass Lehrpersonen nicht über so viel Einfluss und Macht verfügen, dass sie eine Heimeinweisung eines Schülers veranlassen können
• ihm allenfalls anbieten, sich mit ihm zu treffen
• ihm mitteilen, dass Sie den Kontakt mit ihm beenden möchten
• …
Ich hoffe, diese Varianten zeigen Ihnen Handlungsmöglichkeiten auf.
Freundliche Grüsse
Niesen