Liebe/-r Maienkaefer
Leider hält das Recht keine eindeutige Antwort auf Deine Fragen parat.
Die Frage, wer Dir verbieten darf, jemanden im Unterricht als Gast willkommen zu heissen, ist relativ einfach zu beantworten. Dieses Recht kommt der Anstellungsbehörde, in der Regel der Schulleitung, zu (vgl. dazu auch Art. 57 Abs. 1 LAV: „Die Lehrkräfte wirken an der Zielerreichung, an der Organisation und an der Administration der Schule nach Anweisung der Schulleitung mit.“).
Schwierig zu beantworten ist die Frage, wann Dir verboten werden darf, jemanden im Unterricht als Gast willkommen zu heissen. Bei der Beurteilung dieser Frage ist an die folgenden Normen zu denken:
- In erster Linie liegt es im Ermessen der Lehrkraft, wie sie ihren Unterricht gestaltet (vgl. dazu Art. 17 LAG).
- Art. 31 Abs. 4 VSG sieht unter anderem vor, dass die Eltern das Recht haben, den Unterricht ihrer Kinder gelegentlich zu besuchen. Ein solches Recht kommt damit ausschliesslich den Eltern zu, nicht aber den Geschwistern.
- Art. 4 VSG lautet wie folgt: „Sie öffentliche Volksschule ist konfessionell neutral. Sie darf die Glau-bens- und Gewissensfreiheit sowie die im Zivilgesetzbuch geordneten Elternrechte nicht beein-trächtigen.“ Zu prüfen ist also, welche Regelungen das Zivilgesetzbuch (ZGB) vorsieht.
- Art. 301 Abs. 1 und 2 ZGB lauten wie folgt: „Die Eltern leiten im Blick auf das Wohl des Kindes seine Pflege und Erziehung und treffen unter Vorbehalt seiner eigenen Handlungsfähigkeit die nötigen Entscheidungen. (…) Das Kind schuldet den Eltern Gehorsam; die Eltern gewähren dem Kind die seiner Reife entsprechende Freiheit der Lebensgestaltung und nehmen in wichtigen Angelegenheiten, soweit tunlich, auf seine Meinung Rücksicht.“
- Art. 305 Abs. 1 ZGB lautet wie folgt: „Das urteilsfähige Kind unter elterlicher Sorge kann im Rahmen des Personenrechts durch eigenes Handeln Rechte und Pflichten begründen und höchstpersönliche Rechte ausüben.“
Es stellt sich nun die Frage, was „der Reife entsprechende Freiheit der Lebensgestaltung“ und die Ausübung „höchstpersönlicher Rechte“ bedeutet. Hier ist der Ermessensspielraum gross.
Aus rechtlicher Sicht unumstritten ist, dass die „höchstpersönlichen Rechte“ unter anderem die Privatsphäre des Kindes umfassen. „Höchstpersönliche Rechte“ sind unantastbar und dürfen (auch) von den Eltern nicht verletzt werden. Verstanden wird darunter beispielsweise, dass die Eltern das Tagebuch des Kindes nicht lesen dürfen. Man könnte nun argumentieren, dass der Entscheid, ob ein Kind seinen erwachsenen Bruder sehen will, ein höchstpersönliches Recht ist. Bei dieser Argumentation hätte der Umstand, dass das Kind seinen erwachsenen Bruder auf dem Schulareal trifft, keine Beeinträchtigung der Elternrechte und damit auch keine Beeinträchtigung von Art. 4 VSG zur Folge.
Die „der Reife entsprechende Freiheit der Lebensgestaltung“ spricht das Alter bzw. den persönlichen Entwicklungsstand des Kindes an. Je älter das Kind ist, umso mehr Freiheiten sollten ihm von den Eltern zugestanden werden. Hier ist jedoch mehrheitlich unumstritten, dass die Eltern bis zur Mündigkeit des Kindes grundsätzlich über seine Freiheiten entscheiden (Ausnahme: „Hat ein Kind das 16. Altersjahr zurückgelegt, so entscheidet es selbständig über sein religiöses Bekenntnis.“ [Art. 303 Abs. 3 ZGB]).
Zusammengefasst kann Dein Vorgehen am ehesten mit der Argumentation gestützt werden, dass die Gestaltung des Unterrichts in Deiner Freiheit liegt und der Besuch des erwachsenen Bruders die Elternrechte gemäss ZGB nicht verletzt (Grund: Ausübung eines höchstpersönlichen Rechts durch das Kind). Aber: Selbstverständlich ist es möglich, dass eine andere Person zu einer anderen rechtlichen Einschätzung kommen könnte.
Vielleicht noch dies: Ist der Unterrichtsbesuch überhaupt notwendig? Allenfalls würde es ausreichen, dass sich die Brüder auf dem Schulareal treffen (Pause, Schulbibliothek, etc.). So würde der Unterrichtsbesuch keine Angriffsfläche bieten. Ein Treffen auf dem Schulareal dürfte unproblematisch sein, sofern die von der Gemeinde erlassene Nutzungsordnung eingehalten wird.
Und: Der Wunsch der Eltern, dass die Schule dem älteren Bruder den Zutritt zum Schulhaus verwehrt, geht meines Erachtens zu weit. Zum einen besteht dafür wohl kaum eine rechtliche Handhabe, zum anderen können die Eltern nicht davon ausgehen, dass sie ihre persönliche Lebensgestaltung zur Handlungsmaxime für ihr Umfeld erheben dürfen. Der Entscheid darüber, wie die Schule handeln soll, ist den Lehrkräften bzw. der Schulleitung vorbehalten.
Aus meiner Sicht sind die hier besprochenen Fragen übrigens nicht nur im rechtlichen Kontext zu betrachten. Zu überlegen ist auch, welches Mass an Verantwortung Du in einem innerfamiliären Spannungsfeld übernehmen willst bzw. wo genau Du die Grenze ziehen willst. Es dürfte nicht einfach sein, in diesem Fall das richtige Mass an Engagement zu finden.
Ich hoffe, Dir mit dieser Einschätzung weitergeholfen zu haben. Liebe Grüsse, der Schlaue Bison.