Ein Sechstklässler erfüllt seinen Mathplan nicht und die Klassenlehrperson entnimmt dem Browserverlauf, dass der Schüler während der Zeit am Computer Youtube-Filme geschaut hat. Die Klassenlehrperson informiert die anderen Lehrpersonen an der Klasse, die Schulleitung und die schulische Heilpädagogin. Der Schüler streitet alles ab, bis die Lehrperson den Nachweis erbringt. Als Konsequenz darf der Schüler seinen Computer in der Schule nicht mehr benützen und erhält zuhause Medienverbot. Worauf der Schüler einen Laptop in der Schule entwendet und zuhause Videos konsumiert. Er leugnet es, bis die Lehrperson den Laptop aus dem Schulsack des Schülers zieht. Der Schüler entschuldigt sich mündlich und schriftlich und bestätigt, er verstehe, dass Diebstahl ein Delikt sei. Die beigezogene Jugendsozialarbeiterin vermutet Suchtverhalten und spricht sich für einen runden Tisch aus. Die Eltern ziehen es vor, die Psychologin einzubeziehen, die den Schüler wegen seines ADHS betreut. Am Freitag informiert die Mutter die Klassenlehrperson, dass sie zuhause ein iPad der Schule gefunden hat. Im Browserverlauf finden sich verschiedene pornografische Inhalte sowie Games. Am Montag bringt der Schüler das iPad zurück und es findet ein Gespräch zwischen dem Schüler, seiner Mutter und der Klassenlehrperson statt. Die Frage, ob er weitere Schulgeräte zuhause habe, verneint der Schüler. Per Händedruck wird abgemacht, dass der Schüler künftig nicht mehr lügt. Am Dienstagmittag stellt die Klassenlehrperson fest, dass ein iPad fehlt und lässt dieses orten. Das Gerät ist zuhause beim Schüler. Die Klassenlehrperson fragt beim Schüler nach, ob er wirklich keine Schulgeräte mehr bei sich zuhause habe. Er verneint und gibt erst zu, eines nach dem Gespräch am Vortag mitgenommen zu haben, als er seine Wohnadresse und die Hausnummer nennen soll. Auf Anraten der Schulleitung kontaktiert die Klassenlehrperson die Fachstelle Berner Gesundheit. Das Verhalten des Schülers wird als extremer Fall eingestuft, ein runder Tisch wird empfohlen. Der Umgang mit dem Schüler sei mit der Psychologin abzusprechen und Konsequenzen seien durchzuziehen, konkret der Ausschluss vom Sportunterricht, von Ausflügen und anderen ausserschulischen Aktivitäten inklusive Landschulwoche. Die Fachstelle spricht das Familiensystem an und erwähnt den Beizug externer Fachpersonen, Time-Out und Internat. Im Gespräch der Klassenlehrperson mit der Psychologin unterstützt diese Konsequenzen wie Ausschlüsse, da der Schüler aus ihrer Sicht mutwillig lügt. Sie plädiert für pädagogische Massnahmen und gegen eine Therapie. Die schulische Heilpädagogin äussert sich kritisch über eine Fortsetzung von Konsequenzen, die bisher zu keinerlei Verhaltensänderung geführt haben und wirft die Frage nach einem pathologischen Verhalten auf mit Therapiebedarf. Die Schulleitung sucht ein Datum für einen runden Tisch, doch steht die Frage im Raum, wer das weitere Vorgehen koordinieren und bestimmen soll und kann.
Liebe Polyantha
Vielen Dank für Ihre Schilderung. Eindrücklich zu lesen, wie sich die Klassenlehrerin professionell verhalten hat. Sie nimmt achtsam wahr, dass etwas nicht stimmen kann, geht dem auf die Spur, informiert die anderen Lehrpersonen, die Schulleitung und die Heilpädagogin und lässt sich von den Aussagen des Schülers nicht beirren. Offenbar wird in dieser Phase auch zu Hause kooperativ reagiert.
Da diese Schritte keine Verhaltensänderung beim Schüler zeigen, folgt der nächste Schritt zur Schul- bzw. Jugendsozialarbeiterin. Auch sie reagiert professionell und sucht als Fallführerin den runden Tisch, mit der Hypothese im Hinterkopf, dass ein Suchtverhalten hinter den Lügengeschichten stecken könnte. Leider zieht die Mutter in dieser Phase die Zusammenarbeit mit der Psychologin vor.
Die Fachstelle Berner Gesundheit ist sicher eine gute Informationsquelle für Lehrpersonen, noch besser wäre, wenn sich die Mutter mit ihrem Sohn dort melden und Unterstützung erhalten würde. Der Bub braucht dringend Hilfe. Ein Ausschluss aus dem Sportunterricht und aus weiteren Aktivitäten erachte ich als nicht zielführend, weil dies an seinem Suchtverhalten nichts ändern wird und weil gerade diese Aktivitäten – Bewegung und soziale Kontakte – wichtig sind, um dem übermässigen Medienkonsum etwas entgegensetzen zu können.
Nun, was bedeutet das für den runden Tisch und für die Fallführung? Auch wenn die ADHS-Thematik vermutlich eng mit dem Suchtverhalten verknüpft ist, empfehle ich, diese beiden Themen auseinander zu halten.
Die Schulleitung übernimmt den Lead im Bereich Suchtverhalten als Zeichen der Dringlichkeit des Themas. Dabei geht es um die Überzeugungsarbeit der Eltern. Ihr Bub braucht dringend therapeutische Unterstützung, um das Suchtverhalten in den Griff zu bekommen. Ich gehe davon aus, dass die Lügengeschichten vom Schüler nicht bösartig gemeint waren, sondern dass sie sich in den Dienst seiner Sucht gestellt haben.
Nebst den Adressen der BEGES oder der EB erwähnt die Schulleitung auch, welche Konsequenzen der Schüler im Unterricht bezüglich seiner Sucht tragen muss. Diese Konsequenzen würde ich aber klein halten, da eine Bestrafung sein Suchtverhalten nicht ändern kann. Vielleicht geht es darum, ihn während des Computergebrauchs eng zu kontrollieren oder darum, dass er gewisse Aufgaben analog erledigen muss.
Falls sich durch sein übermässiges Gamen zeigen sollte, dass er vermehrt müde wirkt, sich sozial zurückzieht und erheblich Lernstoff verpasst, so soll das unbedingt auch erwähnt werden.
Sollte im Gespräch auch die ADHS-Thematik besprochen werden, übernimmt die IF-Lehrperson den Lead. Sie schildert Beobachtungen und zeigt auf, welche Unterstützungsmassnahmen der Schüler in seinem Lernen und Verhalten von Seiten der Schule erwarten darf.
Ob sein Verhalten für die Schule noch tragbar ist oder ob es auch um das Thema Time-out gehen muss, entnehme ich den Schilderungen nicht. Diese Frage soll aber unbedingt losgelöst vom Suchtverhalten angegangen werden.
Nun wünsche ich Ihnen einen runden Tisch, bei dem die Eltern kooperieren und die Hilfe für den Schüler im Zentrum stehen wird.
Mit freundlichen Grüssen
Ihr Kashgar