Visuelle Wahrnehmung und Verarbeitung

Als Heilpädagogin arbeite ich neu mit einer Schülerin, deren Diagnose u.a. Störung der visuellen Wahrnehmung und Verarbeitung lautet. Um mich ins Thema fundiert einzuarbeiten, suche ich nach einem guten Fachbuch (oder mehreren) mit Hintergrundwissen über Entwicklung, Aspekte und Förderansätze im Bereich der visuellen Wahrnehmung. Mein Ziele wäre, aufgrund eines Modells den aktuellen Entwicklungsstand der Schülerin einschätzen und daraus Förderziele und erste Massnahmen ableiten zu können. Können Sie mir ein solches empfehlen?

Herzlichen Dank,
Aliena

Liebe Aliena,
selbstverständlich unterstütze ich Sie gerne dabei, der Schülerin, mit der Sie gerade arbeiten, ein möglichst förderliches Unterrichtsangebot zu machen. Um Ihnen die gewünschten Informationen geben zu können, wäre es für mich allerdings sehr wichtig zu erfahren, mit welchen übrigen Diagnosen sich der Hinweis auf die Störungen der visuellen Wahrnehmung und der Verarbeitung verbindet. Vermutlich geht es nicht um eine Sinnesbeeinträchtigung, sondern eher eine Wahrnehmungsstörung. Um diesbezüglich sicher zu gehen, sind weitere Angaben von Ihnen sehr hilfreich.

Gerne erwarte ich nun Ihre Rückmeldung und grüsse Sie
Adhei

Liebe Adhei
Danke für Ihre Rückfrage. Die Diagnose „visuelle Wahrnehmungs- und verarbeitungsstörung“ ist das Ergebnis einer schulpsychologischen Abklärung. Gleichzeitig wurde eine LRS diagnostiziert und das Vorliegen eines Asperger Syndroms ausgeschlossen. Die augenoptische Untersuchung ergab einen unauffälligen Visus und der Polatest war ebenfalls unauffällig. Der Hawik ergab ein Potential im Durchschnittsbereich.
Förderdiagnostische Erfassungen habe ich bis jetzt keine durchgeführt, die Frage, ob weitere Abklärungen durch Fachpersonen sinnvoll sind, ist noch offen.
Freundliche Grüsse
Aliena

Liebe Aliena,
vielen Dank für die hilfreichen, differenzierteren Angaben. Damit scheint mir nun wirklich klar, dass wir es mit dem zu tun haben, was eine Wahrnehmungsstörung genannt wird. Ein nicht ganz unproblematischer Begriff, angesichts der Tatsache, dass doch alle Wirklichkeit, wie Uexküll sagt, subjektive Erscheinung ist. `Falschnehmen‘ (Foerster 1996) gibt es demzufolge sicher nicht, so darf eine Wahrnehmungsstörung also nicht verstanden werden.
Wahrnehmung und Lernen sind sehr eng verbunden, so weist denn Zimmer (2005,166) darauf hin, das Wahrnehmungsstörungen sich in diesem Bereich beeinträchtigend auswirken. Dazu passt Ihr Hinweis, dass bei Ihrer Schülerin Lernstörungen im Bereich des Lesens und der Rechtschreibung vorliegen.
Wahrnehmen ist zudem nicht primär das Aufnehmen von beispielsweise visuellen Reizen, um nah an Ihrem Beispiel zu bleiben. Es ist vielmehr gezielte Informationssuche sowie die Aufnahme und Verarbeitung dieser Informationen. Wenn sog. Wahrnehmungsstörungen vorliegen, dann fällt es schwer, Reize in Informationen umzuwandeln, sie also sinngebend zu verarbeiten. Es ist erschwert:
Reize auszuwählen
• wichtige Reize von unwichtigen zu unterscheiden,
• Sinneseindrücke richtig einzuordnen und
• Sinneseindrücke mit vorhandenen Erfahrungen zu verbinden, also sie im Gedächtnis zu verankern (vgl.: Zimmer 2005, 160).

Wenn wir wissen, welche Kompetenzen beeinträchtigt sind, ist klar, in welchen Bereichen unterstützende Hilfen gefragt sind. Deutlich machen worauf es ankommt, die Inhalte mit Vorwissen verknüpfen, z.B. gleiche Zeichen für bestimmte Inhalte bzw. Aufträge verwenden, usw. Das Vorgehen muss selbstverständlich individuell abgestimmt sein. Anregungen bietet sicher der TEACCH-Ansatz, der eben nicht nur zentrale Hilfen für Lernende mit Autismus bereithält.

Helfen diese Überlegungen weiter, bleiben allenfalls noch Fragen offen? Nach meinem Gruss finden Sie noch Literaturhinweise.

Liebe Grüsse und gutes Gelingen
Adhei

Literatur:
Foerster von, H. (1996). Wahrnehmen oder Falschnehmen? In Doering, W.; Doering, W.; Dose, G.; Stadelmann, M. (Hrsg.) . Sinn und Sinne im Dialog. Dortmund: Borgmann.
Häussler, Anne (2005). Der TEACCH-Ansatz zur Förderung von Menschen mit Autismus - Einführung in Theorie und Praxis. Dortmund: Borgmann
Maturana, Humberto (1996). Was ist erkennen? Zürich: Piper Verlag.
Rosenkötter u.a. 2007 - http://www.dgspj.de/pdfs/QZ%20UES-2.pdf – Stand März
Schnabel, Ulrich; Sentker, Andreas (1997). Wie kommt die Welt in den Kopf. Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag.
Zimmer, Renate (2005).Handbuch der Sinneswahrnehmung. Freiburg im Breisgau: Herder Verlag.

Guten Tag Adhei

Herzlichen Dank, das hilft mir weiter. Ich werde mich in die Literatur vertiefen und den Tipp des Teacch-Ansatzes aufnehmen.
Aliena

Liebe Aliena
bitte das Überprüfen der Augenmotorik nicht vergessen - die Augenmotorik ist eine Grundlage für die visuelle Wahrnehmung und in meinem laufenden Forschungsprojekt zur Grafomotorik fällt auf, wie viele Kinder Schwierigkeiten in diesem Bereich haben. Zudem ist es sinnvoll, für diese Thematik mit der Psychomotoriktherapeutin oder dem Psychomotoriktherapeuten zusammenzuarbeiten, da sie für das Gebiet der visuellen Wahrnehmung, der Augenmotorik und der Visuomotorik fundiert ausgebildet sind (sofern sie eine EDK-anerkannte Psychomotorik - Ausbildung haben) .
Liebe Grüsse Judith

Liebe Judith
Gibt es zur Augenmotorik, visuellen Wahrnehmung und Visuomotorik Erfassungs- und Fördermaterial, das ich als Shp einsetzen kann?
Herzlichen Dank
Aliena

Liebe Aliena
es gibt den Beery VMI (Visuomotor Integration Test), der gut in Gruppen durchführbar ist und der sich für die Überprüfung der visuomotorischen Integration eignet - er ist allerdings teuer und nur in den USA normiert.
Es fragt sich einfach, was du mit einem Test erreichen willst und ob dir der Test für die Förderung des Kindes weiterhilft. Es geht ja vorerst sicher darum, herauszufinden ob das Problem eher motorisch (Bewegungsplanung, taktil-kinästhetische Wahrnehmung, Bewegungsabläufe speichern und automatisieren etc.) liegt oder ob es eher von der visuellen Wahrnehmungsverarbeitung ausgeht (Formen erkennen, vorstellen, ergänzen, erinnern etc.). Je nachdem wo das Problem liegt, sieht die Förderung sehr unterschiedlich aus. Ich empfehle dir sehr die Psychomotorik- Therapie einzuschalten - auch wenn es nur für das gemeinsame Herausarbeiten von Förderschwerpunkten oder für das Herausarbeiten geeigneter Tests ist und das Kind nachher weiterhin von dir gefördert wird. Ich finde die interdisziplinäre Zusammenarbeit sehr wichtig bei Themen, für die es an der Schule Spezialisten und Spezialistinnen gibt.
Liebe Grüsse
Judith

Liebe Judith

Herzlichen Dank für die Antwort. Da die Schülerin bisher keinen Psychomotorikplatz hat, geht es mir vor allem darum, mir ein gewisses Hintergrundwissen bezüglich visueller Whn anzueignen, um Beobachtungen einordnen und spontan wie geplant reagieren zu können. Dazu konnte mir „meine“ Psychomotoriktherapeutin kein Buch oä empfehlen. Und auch bei anderen Fachpersonen bekam ich diese Antwort nicht. Kennst du vielleicht Literatur, die in der Psychomotorikausbildung verwendet wird und für mich interessant sein könnte?

Herzliche Grüsse
Aliena

Liebe Judith
Nochmals eine Frage: Ergänzen sich der Frostigs Entwicklungstest visuelle Wahrnehmung und der Berry IV? Falls sie in etwa die gleichen Ergebnisse liefern: Welchen würdest du vorziehen? Ich habe vor, einen oder beide als Grundausstattung für unser 12-köpfiges Shp-Team anzuschaffen. Für unsere Arbeit sind qualitative Ergebnisse, die als Grundlage der Förderplanung genutzt werden können und Hinweise auf Förderansätze liefern, wichtiger als Normierungen. Es geht nicht darum, eine Diagnose zu stellen oder „schwache“ Kinder zu erkennen. Vielmehr sollten wir mit den Lehrpersonen herausarbeiten können, wie sie beispielsweise Schreib-, Zeichen- und Geometrieunterricht an die Bedürfnisse von Kindern, bei denen eine externe Stelle eine visuelle Wahrnehmungsschwäche festgestellt hat, anpassen können und in diesem Rahmen eine Förderung einzubetten. Bisher verwenden wir die Aufgaben aus dem DES und das Förderprogramm Bildung mit Durchblick. Ich würde aber gerne noch etwas mehr in die Tiefe gehen.
Herzliche Grüsse
Aliena

Liebe Aljena

der Beery - Test kann einfach teilweise in Gruppen durchgeführt werden und ich finde ihn von der theoretischen Einbettung her sehr gut. Mit dem FEW-ll habe ich in der Arbeit mit LPs auch schon gute Erfahrungen gemacht, vor allem, wenn es darum geht aufzuzeigen, dass ein Kind möglicherweise im visuellen Bereich gar nicht so grosse Schwierigkeiten hat (motorikreduzierte Aufgaben), bezüglich der Reproduktion und visuomotorischen Integration aber grosse Probleme bestehen (Formabläufe erlernen und planen über das kinästhetische System).
Für die Förderung helfen die beiden Verfahren aber wenig. Das theoretische Wissen darüber, welches die Grundlagen für eine gelingende visuomotorische Integration sind und wie diese erworben werden, ist eine zentrale Voraussetzung, um diese Tests sinnvoll in den Schulalltag integrieren und effektiv nutzen zu können.

Liebe Grüsse
Judith