Was darf beurteilt werden

  1. Bewertung von Hausaufgaben
    Gegen Ende einer Lernumgebung gab ich im Math meiner Klasse eine Anwendungsaufgabe als Hausaufgabe, welche ich anschliessend bewertet habe. Vorgängig sagte ich der Klasse klar, dass ich die Hausaufgaben bewerten werde. Jetzt bekam ich Reklamationen, dass man Hausaufgaben nicht bewerten und fürs Zeugnis mit einbeziehen dürfe. Die SchülerInnen sollen die Möglichkeit haben, zu den Hausaufgaben Fragen zu stellen.

Grundsätzlich:
Darf ich Hausaufgaben beurteilen und für die Zeugnisnote mit einbeziehen?
Falls Hausaufgaben nicht bewertet werden dürfen, weshalb dürfen Vorträge, Handouts, selbständige Schülerarbeiten, welche zu einem grossen Teil zu Hause erledigt werden, bewertet werden? Müsste ich in Zukunft diese Anwendungsaufgabe nicht als „Hausaufgabe“ sondern als „selbständigen Auftrag“ betiteln und alles wäre i.O. gewesen? Wäre ja auch ein Witz…

  1. Leer abgegebene Proben
    In unserem Kollegium führten wir eine spannende Diskussion über Lernkontrollen, welche von einem Schüler leer abgegeben wurde. Diverse Gründe: Verweigerung der Probe? Völliges Blackout? usw.
    Ist es erlaubt diese Lernkontrolle mit einer 1 zu bewerten? Argumentation: Ich kann diesem Schüler keine Punkte geben und 0 Punkte entspricht der Note 1. Die Leistung von diesem Probentag entspricht der Leistung 1.
    ODER darf ich die Lernkontrolle nicht bewerten? Argumentation: Der Schüler zeigt nicht seine mögliche Leistung sondern zeigt ein spezielles Arbeits- und Lernverhalten. Im Math wird nur die Sachkompetenz bewertet und nicht das Arbeits- und Lernverhalten. Ein schlechtes ALV dürfe nicht auf die Mathnote Auswirkung haben. (Nebenbei: Schüler, die sich im Unterricht nicht konzentrieren und schlecht arbeiten, haben oft eine schlechte Note, weil sie den Unterrichtspunkt nicht zum Zeitpunkt x genügend beherrschen… Logisch oder??) In dieser Situation muss mit dem Schüler ein Gespräch geführt werden, weshalb die Leistung nicht erbracht wurde und es darf keine 1 gesetzt werden.

Falls ich die Probe nicht bewerten darf, ab wann darf ich die Probe bewerten? Wenn eine oder zwei Aufgaben gelöst sind?
Wann soll der Schüler dann seine Leistung zum Thema zeigen? Nach x Gesprächen mit einem neu geschriebenen Test für ihn, weil die Klasse den Test schon lange zurück bekommen hat? Ein riesen Aufwand für die Lehrperson…
Zudem kommt dieser Schonumgang in einer späteren Schule / Prüfung niemals mehr vor. Es wird bewertet, was du zum Punkt x zeigst.
Falls diese Variante gesetzlich gilt, würde ich als Schüler sofort bei für mich unverständlichen Themen ein leeres Blatt abgeben, dann muss ich nicht eine schlechte Note kassieren.

Bsten Dank für eure Antworten, die rechtlich ok sind!

Ich habe die Frage unserer Expertin weitergeleitet. Sie wird ihnen in Kürze antworten.
Mit freundlichen Grüssen
Kashgar

Vielen Dank für Ihre Fragen. Sie sprechen hier Themen an, die vermutlich auch andere Lehrkräfte und Kollegien beschäftigen und immer wieder zu Diskussionen Anlass geben. Deshalb ist es mir ein Anliegen, diese Fragen fundiert und ausführlich zu beantworten. Bei der Beantwortung dieser Fragen spielen sowohl rechtliche, wie auch pädagogische Überlegungen eine wichtige Rolle, weshalb die Beantwortung der Fragen etwas mehr Zeit in Anspruch nimmt, als üblich. Die Antwort werde ich in den nächsten Tagen ins Netz stellen. Ich bitte Sie deshalb noch um etwas Geduld.

Freundliche Grüsse

chosun

Gerne teile ich Ihnen einige Gedanken zu Ihren Fragen mit:
Vorbemerkung: Die Noten beurteilen die Sachkompetenz. Bei der Notengebung muss also darauf geachtet werden, dass wirklich die Sachkompetenz und nicht das Lern- und Arbeitsverhalten beurteilt wird.

Zu Frage 1:
Das Beurteilungsmosaik lässt verschiedene Formen von Beurteilung und Beurteilungsanlässen zu - mehr noch, die verschiedenen Formen werden auch gefordert. Die Hausaufgabe, die Sie gestellt und beurteilt haben könnte zum Beispiel als „Beurteilung eines Produktes“ angesehen werden. Anwendungsaufgaben, wie Sie sie gestellt haben sind Aufgaben, in denen Schülerinnen und Schüler gelerntes Wissen auf neue Situationen anwenden müssen - eine wichtige Kompetenz, die durchaus beurteilt werden darf. Das Problem dabei ist höchstens, wie Sie sicherstellen können, dass Sie die Arbeit des Kindes und nicht die einer anderen Person beurteilen. Sie haben die Schülerinnen und Schüler vorgängig darüber informiert, dass sie die Hausaufgabe bewerten werden. So gesehen haben sie den Beurteilungsanlass einfach in einer anderen Umgebung durchführen lassen und dadurch handelt es sich um einen Beurteilungsanlass und nicht um eine Hausaufgabe im eigentlichen Sinn. Bei einem Beurteilungsanlass haben die Schülerinnen und Schüler in der Regel auch nicht die Möglichkeit zu fragen. Dass allfällig auftretende Fragen nachher bei der Besprechung gestellt werden können, ist selbstverständlich klar.

Zu Frage 2:
Der Note 1 kommt laut DVBS die Bedeutung „sehr schwach“ zu. Diese Aussage bezieht sich wieder-um auf die Sachkompetenz. Gleichzeitig sagt die DVBS auch, dass die 1 die tiefste Note ist und deshalb verwendet werden darf. Aber Vorsicht! Die 1 darf nur dann gesetzt werden, wenn aus der Arbeit geschlossen werden kann, dass die beurteilte Sachkompetenz sehr schwach ist.
Ich gebe Ihnen darin absolut recht, dass es nicht sein darf, dass ein Kind bei der Beurteilung seiner Leistung besser weg kommt, wenn es eine Leistung verweigert, als wenn es sich bemüht, die Aufgaben zu lösen und dadurch seine Lücken sichtbar werden.

Die Frage stellt sich deshalb natürlich, was der Grund ist, weshalb der Schüler/die Schülerin das Blatt leer abgegeben hat:
• Hat der Schüler/die Schülerin den Test unter normalen Bedingungen geschrieben, so erhält er 0 Punkte und hat damit eine sehr schwache Leistung erzielt. Auch wenn der Schüler/die Schülerin das Blatt aus disziplinarischen Gründen leer abgegeben hat, so ist die Leistung – „selbstverschuldet“ – sehr schwach und vielleicht nicht der Spiegel dessen, was er/sie wirklich hätte leisten können, aber der Schüler/die Schülerin hätte die Möglichkeit gehabt, zu zeigen, was er/sie kann.

• Stellt sich heraus, dass der Schüler/die Schülerin unter erschwerten Bedingungen zum Test angetreten ist und aus diesem Grund ein leeres Blatt abgibt, müsste dieser Grund sicher in genügendem Masse berücksichtigt und dem Kind eventuell die Möglichkeit zur Wiederholung des Testes geboten werden. Solche Situationen könnten zum Beispiel folgende sein:

o Sehr schwere psychische Belastung durch einschneidende Erlebnisse (Todesfälle, Verluste, traumatisierende Erlebnisse)
o Plötzlich auftretende gesundheitliche Probleme, die das Kind nicht mitteilt (Übelkeit, Migräne, Schwindel, etc)
o Verständnisschwierigkeiten (Fremdsprachigkeit)
So oder so: Gibt ein Schüler/eine Schülerin ein leeres Blatt ab, ist es wichtig, dass ein Gespräch mit Eltern, Schüler/in und allenfalls Schulleitung und Schulsozialarbeiter stattfindet.
Grundsätzlich stellt sich natürlich auch die Frage, ob für 0 Punkte in jedem Fall die Note 1 gesetzt werden muss. Hat ein Kind trotz intensiver Bemühung 0 Punkte erzielt, ist es eventuell sinnvoll dieses Engagement und seinen Versuch die Aufgaben zu lösen, zu würdigen, und nicht eine 1 zu setzen, auch dann, wenn diese rechtlich sogar zulässig wäre. Manchmal kann man in solchen Situationen mit viel Goodwill irgendwo trotzdem noch einen Punkt geben.

Liebe/-r chosun1

Bei Ihrer Antwort zu Frage 1 haben Sie folgende Aussage gemacht:
…Das Problem dabei ist höchstens, wie Sie sicherstellen können, dass Sie die Arbeit des Kindes und nicht die einer anderen Person beurteilen…

Diese Aussage spricht einen ganz zentralen Punkt an, den ich von Ihnen gerne noch genauer erläutert hätte. Aus meiner Sicht kann kaum vermieden werden, dass dem Kinde zu Hause von einer Drittperson geholfen wird. Meine Erfahrung hat mir gezeigt, dass beurteilte Arbeiten, welche zu Hause erledigt werden, oft zusätzlich von weiteren Personen korrigiert/bearbeitet werden oder diese eine relevante Hilfestellung darstellen. Konkret habe ich dies oft bei Vorträgen oder schriftlichen Projektarbeiten feststellen müssen. Ich habe im Verlauf meiner Lehrtätigkeit diese Aufträge auf ein Minimum reduziert (Stichwort Chancengleichheit).

Herzlichen Dank und freunliche Grüsse
bidel68

Sehr geehrte/r bidel68

Entschuldigen Sie bitte, dass die Antwort einige Zeit auf sich warten liess. Ich weilte im Ausland und hatte nur sehr beschränkten Internetzugang.

Fragestellungen, die zu Hause erledigt werden, stellen oft ganz andere Anforderungen und schulen ganz andere Fähigkeiten, als Aufgaben, die im Unterricht bearbeitet werden. Unterricht hat sich in den letzten Jahrzehnten stark gewandelt und wird sich weiter wandeln. Zentrales Anliegen dabei ist heute nicht mehr nur das erzielte Resultat, sondern auch der Weg, der zu diesem führt. Der Schüler/die Schülerin sieht sich mit einer Fragestellung konfrontiert, die er/sie bearbeiten muss. Dazu zieht er/sie bereits erworbene Kenntnisse bei und holt sich weitere relevante Informationen, die er/sie dann einsetzt, um eine sinnvolle Antwort auf die Fragestellung geben zu können. Informationsbeschaffung ist deshalb auch eine wichtige Kompetenz. Dabei geht es darum, dass Schülerinnen und Schüler lernen, die ihnen zugänglichen Informationsquellen zu erkennen und zu nutzen. Diese Informationsquellen mögen eventuell nicht für alle Schülerinnen und Schüler dieselben sein. So ist es aus meiner Sicht durchaus wünschenswert, wenn zu Hause über eine Fragestellung, an der das Kind am arbeiten ist (zum Beispiel Vortrag), gesprochen wird und das Kind dadurch mit verschiedenen Aspekten des Themas konfrontiert wird. Wichtig ist aber, dass der Prozess der Verarbeitung der gesammelten Informationen Eigenleistung ist. Informationen in seiner eigenen Sprache zu formulieren hilft, den Inhalt zu verstehen. Ob das Kind, nachdem es seine Arbeit geschrieben und überarbeitet hat, diese noch einer Drittperson (Klassenkamerad/in, Eltern, …) zu lesen gibt, um sicher zu stellen, dass das Geschriebene verständlich ist, ist aus meiner Sicht durchaus ein legitimes Arbeitsmittel.
Gerade bei Berichten, merkt man sehr schnell, ob ein Text die „Handschrift“ kindlicher Formulierung trägt oder von einem Erwachsenen verfasst worden ist.
Meine persönliche Überzeugung, dass letztendlich nicht die Note, das wichtigste ist, was ein Schüler aus meinem Unterricht mitnehmen soll, sondern das Können, das er sich angeeignet hat und auf seinen weiteren Lebensweg mitnimmt, zeigt mir, dass eben gerade offene Fragestellungen, die sich über einen längeren Zeitraum erstrecken und deshalb immer auch dem Einfluss von „aussen“ ausgesetzt sind, durchaus eine hohe Wichtigkeit und deshalb auch Platz im Schulalltag haben müssen.

Aus dieser Haltung heraus habe ich für meinen Unterricht folgende möglichen Strategien entwickelt:

=> Die Schülerinnen und Schüler erhalten eine Fragestellung, zu der sie während einer gewissen Zeit Materialien sammeln und sich (handgeschriebene) Notizen machen. Diese Notizen (keine fertigen Texte) bringen sie mit in den Unterricht und bearbeiten daraus die Fragestellung im Unterricht. Im Unterricht ist das Kind dann gefordert, seine Erkenntnisse in eigenen Worten zu einem zusammenhängenden Ganzen zu verarbeiten. Dies gelingt nur dann, wenn sich das Kind selber intensiv mit der Thematik auseinandergesetzt und diese auch verstanden hat. Das Kind schreibt dann auch in einer altersgerechten Sprache.

=> Arbeiten, die offensichtlich die „Handschrift“ eines Erwachsenen tragen, Wörter und Redewendungen verwenden, die nicht alterstypisch sind und von Gleichaltrigen kaum verstanden werden, beurteile ich nicht, da ich daraus nicht auf die Sachkom-petenz des Kindes schliessen kann. In diesem Fall bearbeitet das Kind die Fragestellung (oder eine gleichwertige) nochmals in der Schule. Dies wissen sowohl die Schülerinnen und Schüler, als auch die Eltern. Dabei ist mir wichtig, zu betonen, dass es letzendlich nicht darum geht, dass das Kind eine gute Note erhält, sondern dass es Werkzeuge kennen und gebrauchen gelernt hat, auf die es in Zukunft zurückgreifen kann.

Wenn ich den Verdacht habe, dass eine Arbeit weitgehend von Eltern (oder Nachhilfelehrern) geschrieben wurde, erlaube ich mir, dem Kind die eine oder andere Verständnisfrage zu stellen. Daraus lassen sich wichtige Rückschlüsse ziehen.

Mit diesen Massnahmen habe ich einen einigermassen gangbaren Weg gefunden, um mit der von Ihnen thematisierten Problematik im Alltag umgehen zu können.

chosun