Ich unterrichte seit drei Jahren an einer 1./2. Klasse als Klassenlehrperson und habe immer auch Sport unterrichtet. In diesem Jahr sind es 18 ErklässlerInnen und 6 ZweitklässlerInnen. Die Kinder mögen den Sportunterricht sehr und freuen sich immer darauf. Für mich sind diese Lektionen in diesem Jahr sehr belastend und ich fühle mich überfordert.
Neben der grossen Klasse gibt es ein Kind das seine Gefühle kaum unter Kontrolle hat. Sobald es ihn zum Beispiel beim Fangenspiel hat, versucht er dies zuerst zu ignorieren. Wenn der Fänger sich dann wehrt, schlägt er oft auf dieses Kind ein und hört nicht auf, wenn ich ihn nicht mit meinen Händen zurückhalte. Nach zwei Regelverstössen müssen die Kinder bei mir 10 Minuten raussitzen, da verlässt er meistens die Turnhalle und ist dann die ganze Lektion durch nicht mehr fähig, friedlich weiterzuspielen. Heute hat er in einem Spiel verloren und danach in der Garderobe einem Kind an den Kiefer geschlagen, dieser musste lange weinen. Es gibt leider auch Kinder, die es extra provozieren, und zum Beispiel das Spielresultat noch extra oft wiederholen um ihn zu ärgern. Und einige Kinder in dieser Klasse sind schlicht etwas ungeschickt und dann kommt es öfter vor, dass sie ihn mal im Spiel drin zu fest anrempeln. Besser gehen Lektionen wie Mut tut gut oder Bewegungslandschaften. Hingegen beim Versorgen der Geräte ist es auch schon öfter zu Konflikten gekommen, die mit einem Wutanfall geendet haben.
Ich bin mit den Eltern regelmässig in Kontakt. Für sie kommt eine Abklärung auf der EB bis jetzt nicht in Frage und sie machen mit dem Jungen eine Bachblütentherapie. Sie sehen jedoch das Problem auch ein. Der Vater ist eher der Meinung, dass ich mit dem Jungen zu wenig streng bin. Und ich bin mir was das betrifft unsicher, ich kann nicht jeden Regelverstoss sehen, weil doch eher häufig ein Kind ein kleines Problem hat und ein Pflaster braucht oder auf die Knie fällt und kurz weinen muss und ja, ich muss auch andere Kinder im Auge behalten. Ausserdem denke ich kaum, dass eine grössere Strafe etwas bringen würde, da schon die 10 Minuten Strafe für ihn sehr schlimm ist.
Ich überlege mir nun, eine Weile auf Spiele zu verzichten, vielleicht sogar bis Ende Schuljahr. Ich weiss, dass ich so den anderen Kindern die Möglichkeit zu spielen auch wegnehme und das genau dieses Kind das Verlieren auch üben sollte. Und doch habe ich den Eindruck, dass er mit jedem Wutanfall Schaden nimmt, zum einen macht er sich unbeliebt und zum anderen verstärkt er sein „Muster“. Und ich selber ertrage es kaum noch, wöchentlich zwei bis drei Wutanfälle in der Klasse mitzuerleben. Darf ich überhaupt so lange auf Spiele im Sportunterricht verzichten? Oder würden Sie mir eine andere Massnahme empfehlen? Ich habe mir auch schon überlegt in einer Sportlektion pro Woche nur draussen auf dem Pausenplatz spielen zu gehen ohne geführte Spiele. Ich weiss, dass die Kinder dort sehr viel lernen können aber bin mir auch unsicher, ob ich das darf oder ob es dann aussieht als ob ich schlicht meinen Unterricht nicht vorbereite.
Danke für Ihre Hilfe!
Guten Tag besenbiest
Es ist leicht nachvollziehbar, dass der Sportunterricht unter diesen Voraussetzungen für Sie belastend ist und Sie sich überfordert fühlen. Sie machen sich viele Gedanken zur Verbesserung der Situation, noch aber haben Sie keine Entlastung gefunden. Gut, dass Sie in regelmässigen Kontakt mit den Eltern stehen und diese das Problem einsehen. Ob aber das „Zu-wenig-Streng“ ein Mitgrund für die Wutanfälle ist, wage ich zu bezweifeln. Selten helfen Bestrafungen, Verhaltensauffälligkeiten zu lösen…
Ihre Aussage „Und ich selber ertrage es kaum noch, wöchentlich zwei bis drei Wutanfälle in der Klasse mitzuerleben“ macht deutlich, dass es rasch eine Verbesserung braucht! Gerne gebe ich Ihnen meine Gedanken mit.
Spannend ist, dass Sie den systemischen Kontext erwähnen. Ein hilfreicher Aspekt könnte sein, die Klasse im Bereich „Provokation“ zu sensibilisieren. In einer Klassenstunde könnten Fragen besprochen werden: „Wer hat jeweils welchen Anteil an diesen Wutanfällen?“ „Wer hat welche Möglichkeiten, um sie zu entschärfen?“ Vielleicht gibt es auch ein Kinderbuch dazu…
Ein weiterer hilfreicher Ansatz finde ich in Ihren Zeilen: „Besser gehen Lektionen wie „Mut tut gut“ oder „Bewegungslandschaften“. Grundsätzlich gilt, dass es sich lohnt, von dem mehr zu tun, was funktioniert und von dem weniger anzubieten, was potentiell einladend für Wutanfälle zu sein scheint. Vielleicht hilft auch Ihre Idee, eine Sportlektion draussen durchzuführen. Lassen Sie sich nicht verunsichern, was andere darüber denken! Oder informieren Sie das Kollegium über diese unkonventionelle Massnahme, damit keine Spekulationen aufkommen können.
Eine spannende Frage könnte auch sein, was ein Wutanfall eines Kindes in Ihnen auslöst. Was passiert mit Ihnen in diesen Momenten? Welchen Umgang mit der starken Emotion „Wut“ haben Sie gelernt? Darf Wut sein? Zweifeln Sie an Ihren Fähigkeiten, wenn ein Anfall den Bub überrollt?
Doch am Wichtigsten finde ich die Frage, wie Sie möglichst schnell eine Entlastung erhalten können. Haben Sie schon mit der Schulleitung gesprochen? Gibt es die Möglichkeit der SOS Lektionen? Ein Teamteaching mit einer Seniorin, einem Senior oder mit einer schulischen Heilpädagogin, einem schulischen Heilpädagogen? Könnte es Sinn machen, dass die Mutter jeweils in den Turnstunden dabei wäre? Müsste ein temporärer Ausschluss aus dem Sportunterricht in Betracht gezogen werden (dies aber als allerletzte Massnahme…)?
Und schlussendlich könnte auch eine persönliche Beratung helfen, mit dieser herausfordernden Situation besser umgehen und schlussendlich sogar etwas Wichtiges für Ihre weiteren Berufsjahre lernen zu können. Hier finden Sie Ansprechpersonen dafür.
Ich wünsche Ihnen viel Erfolg im Verbessern der Situation und eine grosse Portion Gelassenheit gegenüber diesen Wutanfällen!
Mit freundlichen Grüssen
Kashgar
Guten Morgen
Die beschriebene Situation ist sehr belastend. Das Gewinnen und Verlieren-Können im Sportunterricht ist ein bekanntes Problemfeld. Es wird daher auch im Lehrplan 21 thematisiert: „Die Schülerinnen und Schüler können eigene Emotionen artikulieren und Emotionen der anderen wahrnehmen (z.B. im Umgang mit Sieg und Niederlage).“ Das gehört also zum kindlichen Lernprozess dazu. Nicht bei allen Schülerinnen und Schülern äussert sich dieser Prozess gleich auffällig und bei Ihnen scheint es sich um einen sehr problematischen Verlauf zu handeln.
Die Lösungen aus sportlicher Sicht, bieten Sie gleich selber an:
- Auf das Spielen eine Weile zu verzichten, ist absolut möglich.
- Bewegungslandschaften und Mut tut gut anbieten. Da könnte man auch einen Spielposten einbauen, welcher für Kinder mit Schwierigkeiten beim Gewinnen und Verlieren (vorläufig) gesperrt ist.
- Eine Lektion draussen durchführen: Wenn das ohne Probleme abläuft, dann ist auch dieses Mittel kein Problem. Allenfalls können interessierten Schüler/innen ja Geschicklichkeitsposten zur freiwilligen Auswahl angeboten werden,
Folgende Tipps mögen vielleicht auch noch helfen:
- Spiele ohne Gewinner/innen und Verlierer/innen durchführen. Eine kleine Sammlung dazu finden Sie hier: https://www.zebis.ch/download/unterrichtsmaterial/4_5_spielen_seite_65.pdf.
- Vor Jahren gab es auch mal eine gute Broschüre zum Thema Fairplayspiele. Meines Wissens ist sie nur noch in Bibliotheken erhältlich: https://www.swissbib.ch → Suche Fairplay. Eine kleine Auswahl dazu finden Sie auch im Anhang.
- Meine Erfahrung hat gezeigt, dass manchmal Kampfspiele eine Verbesserung bringen. Die müssen dann aber ganz streng angeleitet und überwacht werden.
Ansonsten kann ich mich den Empfehlungen von Kashgar nur anschliessen. Ein systemisches und komplexes Problem, wie es hier eines zu sein scheint, kann möglicherweise nur mit Hilfe von aussen gelöst werden. Daher nehmen Sie sich die zur Verfügung stehenden, genannten Angebote an und zweifeln Sie nicht an Ihren Fähigkeiten!
Guten Mut und viel Glück!