Liebes Forum
Mir ist nicht ganz klar, wer bei einem Nachteilsausgleich zuständig ist oder inwiefern ich als Regellehrperson das machen „darf“, was genau unter NA läuft, etc. Konkretes Beispiel:
Ich habe einen Schüler mit besonderem Bedürfnissen (u.a. ADHS); er arbeitet sehr sehr sehr langsam, macht momentan fast nichts, oder nur sehr sporadisch. Jetzt mache ich einen Test mit 15 kurzen Fragen. Das Kind kommt nirgends hin, ich mache ihm also denselben Test mit nur 7 Fragen. Ich bewerte diesen Test an sich, also 7 gute Antworten = sehr gut, etc.
Ich habe noch eine weitere Schülerin, die eher schwach ist, deren Arbeitsverhalten aber ganz anders ist, sie „büffelt“ und schafft den Test mit den 15 Fragen. Meine Gedanken: Was, wenn deren Eltern sehen, dass ich dem einen Kind einen viel kürzeren Test gemacht habe, und es dafür auch eine 6 gekriegt hat, ihr Kind sich aber mit 15 Fragen „abgemüht“ hat, und dafür eine 5.5 erhalten hat?
(…an unserer Schule sind solche Situationen Realität…).
Darf ich das als Regellehrperson überhaupt? Wie begründe ich das? Muss ich die Eltern des Jungen mit den 7 Fragen informieren, dass ihr Kind nur die Hälfte der Fragen lösen muss? Was genau an Vereinfachung liegt in meiner Kompetenz, was muss via SHP gehen (die ist ja nicht immer zu Stelle)…etc.? Wie viel Nachteile darf ich selber ausgleichen?
Danke für eine Rückmeldung. Lg, Helena
Liebe Helena
Vielen Dank für deine Anfrage. Gerne versuche ich, deine Fragen zu beantworten.
Sind Schülerinnen und Schüler aufgrund von körperlichen Voraussetzungen, Sinnesfunktionen, Sprachkompetenzen oder in Bezug auf die Kenntnisse der Unterrichtssprache benachteiligt, verfügt die Volkschule über verschiedene Möglichkeiten, Ausgleichsmassnahmen zu ergreifen.
1. Innere Differenzierung
In deinem Beispiel beschreibst du Massnahmen, die im Rahmen der inneren Differenzierung erfolgen. Es sind dies niederschwellige Möglichkeiten, den Unterricht unter Berücksichtigung der individuellen Lernvoraussetzungen der Schülerinnen und Schüler angemessen zu gestalten. Als Lehrperson darfst du (und musst du sogar) Massnahmen in Rahmen der inneren Differenzierung vollständig ausschöpfen, bevor weitergehende Massnahmen erfolgen. Erst wenn die innere Differenzierung nach Lehrplan auch über längere Zeit und in erheblichem Mass nicht ausreicht, kommen weiterführende Massnahmen wie individuelle Lernziele (iLZ) oder Ausgleichsmassnahmen (Abweichen aus «wichtigen Gründen» von den Vorschriften - zur Beurteilung (Art. 19 DVBS) zum Zuge.
Im Lehrplan 21 findest du dazu den folgenden Abschnitt:
Heterogenität wird hier als Beschreibung der Verschiedenheit und Vielfalt innerhalb schulischer Lerngruppen insbesondere anhand von Alter, Geschlecht, Leistung, Sprache und Herkunft verstanden. Sie als Faktum einer integrativen Volksschule zu akzeptieren heisst, durch differenzierende Unterrichtsangebote individuelle Lernwege zu ermöglichen und zielgerichtet zu begleiten. Es bedarf vielfältiger Angebote und Differenzierungsmassnahmen, um den Unterschieden in heterogenen Lerngruppen so gut wie möglich Rechnung zu tragen. Die Lehrpersonen passen den Unterricht an die unterschiedlichen Voraussetzungen der Lernenden an mit dem Ziel, möglichst allen Schülerinnen und Schülern Lernfortschritte zu ermöglichen. Voraussetzungen sind dabei vielfach (leistungs-) differenzierende, dem Entwicklungs- und Lernstand (von Schülern oder Schülergruppen) entsprechende Aufgaben. Im Weiteren gehören dazu angepasste Formen der Instruktion sowie der fachlichen und prozessorientierten Lernunterstützung. Flexibilität in der Organisation von Lerngruppen und Unterrichtszeit, geeignete Lehrmaterialien mit differenzierenden Aufgaben sowie eine im Rahmen von Schulkontexten und Ressourcen mögliche Individualisierung der Lernunterstützung dienen dem Unterricht in heterogenen Lerngruppen.
Mehr dazu im Lehrplan 21
- Du kannst deine Massnahmen also gegenüber von anderen Eltern im Rahmen der inneren Differenzierung begründen und vertreten.
- Auf alle Fälle solltest du die Eltern des Schülers, bei dem du Massnahmen zur inneren Differenzierung anwendest, transparent darüber informieren, dass du Anpassungen im Rahmen der inneren Differenzierung vornimmst.
- Als Lehrperson verfügst du durchaus über die Kompetenzen die Vereinfachungen im Rahmen der inneren Differenzierung selbst vorzunehmen.
- Eine Zusammenarbeit mit der schulischen Heilpädagogin ist sinnvoll und angezeigt, damit ihr zusammen weitere Möglichkeiten der inneren Differenzierung ausprobieren könnt (auch im gemeinsam verantworteten Unterricht), bevor weitergehende Massnahmen ins Auge gefasst werden. Sie kann dich unterstützen und beraten.
2. Abweichen aus «wichtigen Gründen» von den Vorschriften - zur Beurteilung (Art. 19 DVBS) (=Nachteilsausgleich)
Das Abweichen aus «wichtigen Gründen» von den Vorschriften - zur Beurteilung (Art. 19 DVBS) (=Nachteilsausgleich) ist eine Massnahme, die du als Regellehrperson nur dann einleiten kannst, wenn eine Diagnose (von der EB abgeklärt) vorliegt. Also zum Beispiel eine LRS oder eine Dyskalkulie u.a.
Der Antrag für einen Nachteilsausgleich erfolgt von der Klassenlehrperson oder von den Eltern an die Schulleitung mittels Antragsformular.
Die Formulierung eines Nachteilsausgleiches (die konkreten Massnahmen, die sich für die Schülerin /den Schüler daraus ergeben) erfolgt durch die Lehrperson. Wenn die Schülerin oder der Schüler bereits mit einer IF-Lehrperson arbeitet (SpuS Antrag vorliegt) hilft sie bei der der Formulierung des Nachteilsausgleiches mit und unterstützt die Lehrperson bei der Umsetzung. Zur Formulierung des Nachteilsausgleich gibt es Formulare.
Diese und weitere Informationen und Merkblätter findest du hier.
3. Individuellen Lernziele (iLZ)
Eine weitere Massnahme sind die individuellen Lernziele (iLZ)
Ich kopiere dir dafür einen Abschnitt aus dem Leitfaden Integration und besondere Massnahmen (IBEM) Seite 14:
Für Schülerinnen und Schüler, welche dauernd erheblich weniger bzw. erheblich mehr leisten als durch die Lernziele vorgegeben ist, kann die Schulleitung auf Antrag der Lehrpersonen und mit Einverständnis der Eltern ab dem 3. Schuljahr reduzierte bzw. erweiterte individuelle Lernziele bewilligen. Bevor ein Kind nach reduzierten individuellen Lernzielen (riLZ) unterrichtet wird, ist es bei festgestelltem Bedarf schon vorher mit innerer Differenzierung individuell zu fördern.
Achtung: Die Verfügung reduzierter individueller Lernziele ist eine weiter gehende Individualisierungsmassnahme. Sie betrifft in der Regel promotionsrelevante Fachbereiche, womit die Gefahr besteht, dass die weitere Bildungslaufbahn der betroffenen Schülerinnen und Schüler negativ beeinflusst werden könnte. Daher sollten reduzierte individuelle Lernziele nur mit allergrösster Vorsicht und nur dann angewandt werden, wenn alle anderen Unterstützungs- und Ausgleichsmassnahmen ausgeschöpft worden sind.
Hinweis: Individuelle Lernziele werden in den AHB zum LP 21 «angepasste Lernziele» genannt. Individuelle Lernziele sind unabhängig von weiteren besonderen Massnahmen einsetzbar. Schülerinnen und Schüler mit individuellen Lernzielen haben nicht „automatisch“ einen Anspruch auf weitere besondere Unterstützungsmassnahmen.
In gewissen Fällen kann es angezeigt sein, weitere Massnahmen einzuleiten. Beispielsweise Logopädie, wenn eine Schülerin oder ein Schüler nebst einer andauernden Minderleistung in der Mathematik auch eine Sprachstörung aufweist. Umgekehrt sind ebenso alle besonderen Massnahmen unabhängig von individuellen Lernzielen einsetzbar. Reduzierte oder erweiterte individuelle Lernziele in mehr als zwei Fächern können durch die Schulleitung im Einverständnis mit den Eltern nur auf Antrag der EB oder KJP bewilligt werden. Die Schulleitung veranlasst periodisch zu überprüfen, ob die individuellen Lernziele noch angezeigt sind oder ob sie aufgehoben werden können.
Und hier noch zwei weitere hilfreiche Links:
Solltest du und deine zuständige schulische Heilpädagogin weitere Fragen rund um das Thema besondere Massnahmen oder zur multiprofessionellen Zusammenarbeit haben, kannst du dich zusammen mit der Heilpädagogin für eine Fachberatung Heilpädagogik anmelden
Liebe Grüsse jaisru
Vielen Dank für die Ausführungen. Dann habe ich bisher immer die Begriffe „Innere Differenzierung“ sowie „Nachteilsausgleich“ verwechselt, resp. nicht korrekt angewendet. Die Antwort klärt mir nun viele bislang eher unklare Punkte. Dankeschön.