LRS mit Nachteilsausgleich nicht erfolgreich

Ich unterrichte an einer gemischten 5./6. Klasse und habe eine Schülerin in der 5. Klasse (Einzelkind), die eine schwere LRS hat. Deshalb hat sie seit diesem Schuljahr einen Nachteilsausgleich. Sie ist 1 Lektion pro Woche in der Logo und auch die IF-Lehrperson arbeitet 1 Lektion die Woche mit ihr. Leider ist sie wenig motiviert bei den Speziallehrpersonen.

Im Klassenteam, mit der IF- und Logo-Lehrperson haben wir uns schon viel ausgetauscht und uns Gedanken zur Umsetzung vom Nachteilsausgleich gemacht. Trotzdem ist es oft schwierig im Unterricht, da sie bei Aufträgen, die schriftlich sind, nicht selbständig arbeiten kann. Durch die Mehrjahrgangsklasse haben wir Lehrpersonen jedoch manchmal keine Zeit, ihr vorzulesen oder mit ihr alleine zu arbeiten. Das heisst, dass sie entweder Mitschülerinnen fragt zum Vorlesen und dann für sich versucht, die Aufträge zu lösen, abschreibt oder nichts macht.

Beim Standortgespräch im November haben wir vorgeschlagen, die Schülerin auf der EB zusätzlich auf ADHS abzuklären. Für uns Lehrpersonen hat sie neben der LRS auch eine Konzentrationsschwäche, ist impulsiv, mit einem chaotischen Arbeitsverhalten und hat weitere Anzeichen eines ADHS. Die Eltern waren gegen weitere Abklärungen.
Vor Kurzem hat die Logopädin ihre Fortschritte überprüft. Vom Lesen her ist die Schülerin auf dem Niveau der 2. Klasse. Sie kann also bei schriftlichen Aufträgen und Texten dem Unterricht schlicht nicht folgen, da sie nur sehr langsam lesen kann. Wir machen uns Sorgen, weil es in unseren Augen Richtung Analphabetismus geht. Dazu ist die Frage aufgetaucht, wie weit der NAG geht und ob es sein kann, dass sie durch den NAG trotz fehlender Lesekompetenz und einer ungenügenden Beurteilung in den Bereichen Schreiben und Sprache im Fokus eine genügende Zeugnisnote erreicht.

Im letzten halben Jahr haben die Logopädin und ich an einem Forschungsprojekt zum Schreiben teilgenommen, bei dem sie mithilfe eines Tablets Geschichten sprechen anstatt schreiben konnte und das Gesprochene dann im Textverarbeitungsprogramm verschriftlicht wurde. Zudem hat es ihr dann den geschriebenen Text vorgelesen. Sie hat es trotz dieser Hilfe nicht geschafft, eine zusammenhängende, logische Geschichte zu „schreiben“. Schlussendlich wollte sie lieber wieder von Hand schreiben.

Nun möchten wir wissen, was es noch für Möglichkeiten gibt. Soll ein riLz ins Auge gefasst werden? Oder sollen wir sie einfach weiterlaufen lassen und zulassen, dass sie mit sehr geringer Lesekompetenz in die Oberstufe geschickt wird?

Hallo Silberhorh
Besten Dank für die interessante Frage. Wir haben diese intern an unsere Spezialistinnen zur Beantwortung weitergeleitet. Die Antwort kommt so bald als möglich, danke für die Geduld.
Grüsse Segler

Hallo Silberhorh

Gerne leite ich Dir die Antwort von unserem Spezialisten weiter:

"Ich fasse einmal kurz zusammen:
• Schülerin (5. Klasse) mit schwerer LRS
• Leseniveau entspricht ungefähr der 2. Klasse
• Bekommt pro Woche 1 Lektion Logopädie und 1 Lektion IF
• Hinzukommen Konzentrationsschwierigkeiten und chaotisches Arbeitsverhalten (Verdacht auf ADHS)
• Hat Anspruch auf Nachteilsausgleichsmaßnahmen

Grundsätzlich sollte man bei dieser Schülerin mehrgleisig fahren. Einerseits sollte man die Lese-Rechtschreibfähigkeiten aufbauen, andererseits die bestehenden Schwierigkeiten kompensieren.

Die Schülerin hat das Recht, Lesen und Schreiben vollumfänglich zu erwerben, weswegen man hier weiterhin alle Bemühungen verfolgen sollte. Allerdings muss man auch sagen, dass bei einer solchen Leistungsdiskrepanz 1 Lektion Logopädie und 1 Lektion IF pro Woche eher wenig sind. Könnte man hier mehr erreichen?
Aufgrund der großen Leistungsdiskrepanz zu den Mitschüler:innen können und sollten außerdem kompensatorische Hilfsmittel und Strategien etabliert werden, die eine weitere Teilhabe am laufenden Unterricht ermöglichen. Hier kommt der Nachteilsausgleich ins Spiel.
Ihr habt schon einige Umsetzungen versucht, die teils nicht erfolgreich waren oder nur auf Kosten der Mitschüler:innen funktionierten.

Der Verband Dyslexie Schweiz hat eine Übersicht über mögliche Nachteilsausgleichsmaßnahmen veröffentlich, die Euch vielleicht noch weitere Ideen liefern.
Besonders hervorheben möchte ich hier die sog. assistiven Technologien. So bietet die aktuelle Version von Microsoft Office (allen voran Word) eine breite Palette von Optionen, die sowohl das Lesen als auch das Schreiben erleichtern können.
Insofern Ihr mit Microsoft Office arbeitet, stehen Euch diese Funktionen kostenlos zur Verfügung. Ich rate Euch diesbezüglich, diese Optionen einmal zu erkunden – es lohnt sich sehr!

Die Information, dass die Schülerin auch Mühe hat, zusammenhängende und logische Geschichten einzusprechen, überrascht mich nicht. Der schriftliche Modus bietet andere Optionen, eine Geschichte zu planen, umzustrukturieren, zu überarbeiten, zu korrigieren etc. als der mündliche, v.a. da Schriftliches bleibend ist und wieder und wieder gelesen, durchdacht und überarbeitet werden kann.
Natürlich geht das auch über das Diktat – die Vorgehensweisen unterscheiden sich aber in zentralen Punkten und müssen dementsprechend trainiert werden. So muss eine Geschichte (wenn man eben nicht auf Schrift als Hilfsmittel zurückgreifen kann) im Kopf vorgeplant, gemerkt und korrekt wiedergegeben werden. Es sind also Zwischenschritte nötig, die man kennenlernen und üben muss.
Hinzukommt, dass die Fähigkeit, Geschichten in angemessener Art und Weise zu „schreiben“ hauptsächlich mit dem Erwerb der Schriftsprachkompetenzen erlernt wird und nicht unabhängig von diesen. Da sie diese Entwicklung aber kaum bzw. nur sehr verzögert mitmacht, konnte sie entsprechende Erzählfähigkeiten noch nicht erwerben. Mir stellt sich außerdem die Frage, ob eventuell noch eine weitere mündliche Sprachfähigkeit verzögert sein könnte, nämlich auf Ebene der pragmatischen Fähigkeiten (Gespräche führen, Perspektiven einnehmen und versprachlichen können und eben Geschichten nachvollziehbar erzählen können).

Bezüglich der ADHS-Symptomatik muss angemerkt werden, dass eure Beobachtungen evtl. auch durch die Probleme im Lesen und Schreiben erklärt werden können. Ihr sagt ja selbst, dass sie bei schriftlichen Texten und Aufträgen nicht folgen und nicht selbstständig arbeiten kann. Natürlich ist sie im schriftsprachlichen Bereich besonders gefordert, was zulasten der Konzentration und Ausdauer und auch der Impulskontrolle geht.
Das Modell „Not-So Simple View of Writing“ besagt, dass die Fähigkeiten der Texterstellung, des (Recht-)Schreibens und die exekutiven Funktionen voneinander abhängen. Wenn also die Texterstellung, das Schreiben und Rechtschreiben schon so mühsam erfolgen, dann werden die exekutiven Funktionen besonders beansprucht bzw. sogar „verbraucht“. Andersherum gesagt: Wenn die Schülerin in den Bereich Texterstellung und (Recht-)Schreiben Fortschritte macht, sollten auch wieder mehr Kapazitäten im Bereich Konzentration, Aufmerksamkeit und Impulskontrolle zur Verfügung stehen.

Und noch zum letzten Aspekt: Die Vergabe von riLz sollte immer sorgfältig abgewogen werden – was löst dies bei der Schülerin aus? Entfällt hier evtl. ein gewisser Leistungsdruck, der die Schülerin auf eine gute Art und Weise (heraus-)fordert? Oder führt die Aussicht auf ungenügende Noten schon zu einer Überforderung? Abgesehen von dem „Schutz vor einer schlechten Note“ zeigen verschiedene Forschungsprojekte, dass Maßnahmen wie riLz bedeutende negative soziale und auch berufliche Konsequenzen haben können. Schüler:innen, die einmal riLz haben, erlangen mit größerer Wahrscheinlichkeit niedrigere Schulabschlüsse und haben schlechtere Chancen auf gute Ausbildungen und auch auf dem Arbeitsmarkt. Dies wäre m.E. die letzte Maßnahme, die man ergreifen sollte.
Die Möglichkeiten in den Bereichen Förderung und Therapie sowie Nachteilsausgleichsmaßnahmen sollten erst so gut wie möglich ausgeschöpft werden."

Beste Grüsse

Hallo Silberohr
Alle Achtung vor deinem/eurem Engagement für die Schülerin. Was mich hellhörig macht: die Eltern waren gegen weitere Abklärungen. Der Verbleib der Schülerin in der Regelschule ist den Eltern wichtiger, als die optimale individuelle Förderung des Kindes.
Ist menschlich nachvollziehbar, gleichzeitig werden Grenzen der öffentlichen Schule und vor allem der Lehrpersonen sichtbar.
Ohne grundlegende Abklärung mit anschliessender Planung der Oberstufe und Gestaltung einer entsprechenden Lernumgebung, wird es schwierig für die Schülerin. riLz scheint mir eine wenig wirksame Lösung zu sein.
Es gibt Grenzen der Integration durch die öffentliche Schule.

Hallo Segler

Vielen Dank eurem Spezialisten für die ausführliche Antwort. Wir schauen nun im Klassenteam, mit der Logopädin und der if, was wir konkret umsetzen könnten. Zudem ist ein Gespräch mit den Eltern geplant, um das weitere Vorgehen zu besprechen. Auch dafür werden wir auf eure Antwort zurückgreifen und ihnen die Sachlage besser erklären können.

Liebe Grüsse

Hallo Silberhorn
Besten Dank für die Rückmeldung, welche ich gerne weiterleite. Ich wünsche Euch gutes Gelingen.
Grüsse
Segler