Hallo Silberhorh
Gerne leite ich Dir die Antwort von unserem Spezialisten weiter:
"Ich fasse einmal kurz zusammen:
• Schülerin (5. Klasse) mit schwerer LRS
• Leseniveau entspricht ungefähr der 2. Klasse
• Bekommt pro Woche 1 Lektion Logopädie und 1 Lektion IF
• Hinzukommen Konzentrationsschwierigkeiten und chaotisches Arbeitsverhalten (Verdacht auf ADHS)
• Hat Anspruch auf Nachteilsausgleichsmaßnahmen
Grundsätzlich sollte man bei dieser Schülerin mehrgleisig fahren. Einerseits sollte man die Lese-Rechtschreibfähigkeiten aufbauen, andererseits die bestehenden Schwierigkeiten kompensieren.
Die Schülerin hat das Recht, Lesen und Schreiben vollumfänglich zu erwerben, weswegen man hier weiterhin alle Bemühungen verfolgen sollte. Allerdings muss man auch sagen, dass bei einer solchen Leistungsdiskrepanz 1 Lektion Logopädie und 1 Lektion IF pro Woche eher wenig sind. Könnte man hier mehr erreichen?
Aufgrund der großen Leistungsdiskrepanz zu den Mitschüler:innen können und sollten außerdem kompensatorische Hilfsmittel und Strategien etabliert werden, die eine weitere Teilhabe am laufenden Unterricht ermöglichen. Hier kommt der Nachteilsausgleich ins Spiel.
Ihr habt schon einige Umsetzungen versucht, die teils nicht erfolgreich waren oder nur auf Kosten der Mitschüler:innen funktionierten.
Der Verband Dyslexie Schweiz hat eine Übersicht über mögliche Nachteilsausgleichsmaßnahmen veröffentlich, die Euch vielleicht noch weitere Ideen liefern.
Besonders hervorheben möchte ich hier die sog. assistiven Technologien. So bietet die aktuelle Version von Microsoft Office (allen voran Word) eine breite Palette von Optionen, die sowohl das Lesen als auch das Schreiben erleichtern können.
Insofern Ihr mit Microsoft Office arbeitet, stehen Euch diese Funktionen kostenlos zur Verfügung. Ich rate Euch diesbezüglich, diese Optionen einmal zu erkunden – es lohnt sich sehr!
Die Information, dass die Schülerin auch Mühe hat, zusammenhängende und logische Geschichten einzusprechen, überrascht mich nicht. Der schriftliche Modus bietet andere Optionen, eine Geschichte zu planen, umzustrukturieren, zu überarbeiten, zu korrigieren etc. als der mündliche, v.a. da Schriftliches bleibend ist und wieder und wieder gelesen, durchdacht und überarbeitet werden kann.
Natürlich geht das auch über das Diktat – die Vorgehensweisen unterscheiden sich aber in zentralen Punkten und müssen dementsprechend trainiert werden. So muss eine Geschichte (wenn man eben nicht auf Schrift als Hilfsmittel zurückgreifen kann) im Kopf vorgeplant, gemerkt und korrekt wiedergegeben werden. Es sind also Zwischenschritte nötig, die man kennenlernen und üben muss.
Hinzukommt, dass die Fähigkeit, Geschichten in angemessener Art und Weise zu „schreiben“ hauptsächlich mit dem Erwerb der Schriftsprachkompetenzen erlernt wird und nicht unabhängig von diesen. Da sie diese Entwicklung aber kaum bzw. nur sehr verzögert mitmacht, konnte sie entsprechende Erzählfähigkeiten noch nicht erwerben. Mir stellt sich außerdem die Frage, ob eventuell noch eine weitere mündliche Sprachfähigkeit verzögert sein könnte, nämlich auf Ebene der pragmatischen Fähigkeiten (Gespräche führen, Perspektiven einnehmen und versprachlichen können und eben Geschichten nachvollziehbar erzählen können).
Bezüglich der ADHS-Symptomatik muss angemerkt werden, dass eure Beobachtungen evtl. auch durch die Probleme im Lesen und Schreiben erklärt werden können. Ihr sagt ja selbst, dass sie bei schriftlichen Texten und Aufträgen nicht folgen und nicht selbstständig arbeiten kann. Natürlich ist sie im schriftsprachlichen Bereich besonders gefordert, was zulasten der Konzentration und Ausdauer und auch der Impulskontrolle geht.
Das Modell „Not-So Simple View of Writing“ besagt, dass die Fähigkeiten der Texterstellung, des (Recht-)Schreibens und die exekutiven Funktionen voneinander abhängen. Wenn also die Texterstellung, das Schreiben und Rechtschreiben schon so mühsam erfolgen, dann werden die exekutiven Funktionen besonders beansprucht bzw. sogar „verbraucht“. Andersherum gesagt: Wenn die Schülerin in den Bereich Texterstellung und (Recht-)Schreiben Fortschritte macht, sollten auch wieder mehr Kapazitäten im Bereich Konzentration, Aufmerksamkeit und Impulskontrolle zur Verfügung stehen.
Und noch zum letzten Aspekt: Die Vergabe von riLz sollte immer sorgfältig abgewogen werden – was löst dies bei der Schülerin aus? Entfällt hier evtl. ein gewisser Leistungsdruck, der die Schülerin auf eine gute Art und Weise (heraus-)fordert? Oder führt die Aussicht auf ungenügende Noten schon zu einer Überforderung? Abgesehen von dem „Schutz vor einer schlechten Note“ zeigen verschiedene Forschungsprojekte, dass Maßnahmen wie riLz bedeutende negative soziale und auch berufliche Konsequenzen haben können. Schüler:innen, die einmal riLz haben, erlangen mit größerer Wahrscheinlichkeit niedrigere Schulabschlüsse und haben schlechtere Chancen auf gute Ausbildungen und auch auf dem Arbeitsmarkt. Dies wäre m.E. die letzte Maßnahme, die man ergreifen sollte.
Die Möglichkeiten in den Bereichen Förderung und Therapie sowie Nachteilsausgleichsmaßnahmen sollten erst so gut wie möglich ausgeschöpft werden."
Beste Grüsse