Unterricht mit Jugendlichen

Guten Tag
Ich unterrichte neu an einer BVS BPA Klasse. Vorher habe ich auf der Primarstufe unterrichtet. Da für mich die Klassenführung mit jugendlichen Schüler:innen neu ist, bin ich in vielen Bereichen des Klassenmanagents noch unsicher und muss meine Haltung noch finden. Ich möchte das Bedürfnis der SuS nach Selbstbestimmung und Autonomie unterstützen, habe aber mit der Zeit realisiert, dass teilweise die Klasse bestimmt und nicht ich. Das möchte ich nicht und halte ich auch nicht für sinnvoll.

Beispielsweise habe ich ihnen während des Unterrichts Zeit gegeben, um ihre Unterlagen zu ordnen und um ihr Pult herum Ordnung zu schaffen. Einige SuS verschwanden dann plötzlich einfach in die verfrühte Pause (ich dachte, sie gehen kurz zu ihren Spinds) und waren bis zum Klingeln nicht mehr gesehen. Sie meinten dann, sie hätten mich falsch verstanden. Allerdings hatte ich vorher deutlich gesagt, sie sollen noch im Klassenzimmer bleiben. Solche Situationen gibt es oft, bei denen Sie meine Anweisungen „falsch“ verstehen etc. Auch gibt es ab und zu Unterrichtsstörungen (z. B. Papierkugeln rumwerfen) bei denen niemand beteiligt gewesen sein will. Selbst wenn ich jemanden in flagranti erwische, wird die Täterschaft weiterhin abgestritten.

Nun möchte ich zwei grössere Veränderungen erwirken:

  1. Möchte ich die Führung über die Klasse zurückgewinnen. Dazu sei gesagt, dass ich den Eindruck habe, zu den einzelnen SuS eine solide und vertrauensvolle Beziehung zu haben. Ich möchte einfach meine anfänglich eher legere Haltung etwas korrigieren und klarer und bestimmter auftreten. Allerdings habe ich innerlich noch nicht ganz zu einer klaren Haltung gefunden. Mir widerstrebt es, „Polizistin“ zu spielen bei Menschen, die schon bald erwachsen sind. Gleichzeitig möchte ich aber ein angenehmes Lernklima schaffen, bei dem ein respektvolles Miteinander herrscht, auch mir gegenüber. Die SuS sollen lernen, dass mehr Freiheit auch mit mehr Verantwortung einhergeht.
  2. Möchte ich mehr Struktur und Rituale in meinen Unterrichtsalltag einbauen, welche die Klassenführung erleichtern und den Jugendlichen Orientierung geben.
    Welche Tipps und Erfahrungen könnt ihr mit mir teilen? Wie gelingt die Klassenführung bei Jugendlichen gut?
    Was für Strukturierungshilfen und Rituale eignen sich im Verlauf der Schulwoche als Leitplanken für den Unterricht?

Liebe Grüsse

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Liebe/r Semi

Ich möchte dir einige Tipps geben. Entscheide du, ob sie zu dir passen und ob du sie annehmen möchtest.

  1. Definiere für dich selbst, was du von den Lernenden erwartest, und erstelle Klassenregeln hierzu. Bei Klassenregeln lautet die Devise: Weniger ist mehr. Ich bin mit drei überprüfbaren Eigenschaften gut gefahren: Höflichkeit, Selbstständigkeit und Zuverlässigkeit. Selbstständigkeit bedeutet übrigens nicht, alles alleine bewältigen zu können, sondern bei Bedarf auch um Hilfe zu fragen.
  2. Überlege dir, wie du den Lernenden eine Rückmeldung zu ihrem Verhalten geben möchtest. Beispiele: eine Ampel an der Tafel oder die Kategorien ++, +, O (Kreis) und - (Minus). Du kannst an dein System auch einen Verstärkerplan anknüpfen. Am niederschwelligsten ist jedoch die Secret-Student-Technik, die ich hier beschreibe: Formative Evaluation/Formatives Assessment - #5 von PhilippC.
  3. Überlege dir, wie du mit regelwidrigem Verhalten umgehst. Meine Erfahrung ist, dass Extraaufgaben oder Nachsitzen schnell ihre Wirkung verlieren und sich nachteilig auf die Beziehung zu den Lernenden auswirken. Versuche lieber, so oft es geht, positives Verhalten zu verstärken und mit den Erziehungsberechtigten in Kontakt zu stehen.

Da du aus der Primarstufe kommst und neu im BVS-/BPA-Setting bist, möchte ich dir noch mein Konzept für die inklusive Berufsorientierung empfehlen. Auch wenn ich es für deutsche Lernende entworfen habe, wirst du vieles verwenden können: Inklusive Berufsorientierung leicht verständlich und sprachsensibel.

Beste Grüsse
Philipp

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Lieber Philipp
Danke für deine wertvollen Tipps. Ich werde sie gerne ausprobieren! Du beschreibst bei der Secret Student Methode, dass die ganze Klasse einen Punkt erhält, bei löblichem Verhalten. Gibt es ab einer bestimmten Anzahl gesammelter Punkte eine Belohnung? Wenn ja, etwas Materielles oder eher Immaterielles?

Liebe Grüsse
Semi

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Liebe/r Semi

Ob Materielles oder Immaterielles als Belohnung dienen soll, besprichst du am besten mit den Lernenden. Diese sollen die Belohnung als etwas Erstrebenswertes ansehen.

Wenn du auch den Belohnungsaufschub trainieren möchtest, kannst du ähnlich wie beim Marburger Konzentrationstraining vorgehen und Belohnungen für 5 Punkte, 10 Punkte und 20 Punkte anbieten.

Auch die Praxis, in jeder Stunde mündliche Noten zu machen (siehe im oben erwähnte Beitrag), kann der Motivation zuträglich sein.
Wenn du mein Beurteilungsraster als Anregung haben möchtest, kannst du mir das einfach mitteilen.

Beste Grüsse
Philipp

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Lieber Philipp

Das ist eine gute Idee, ich werde mit meinen SuS besprechen, was sie sich als Belohnung wünschen.
Ich hätte dein Beurteilungsraster sehr gerne als Anregung. Vielleicht hast du mir noch einen Tipp im Umgang mit Wünschen und Bedürfnissen der Klasse, die ich nicht erfüllen kann oder will. Z. B. möchten Sie unbedingt während der Projektwoche in ein Lager gehen. Allerdings traue ich mir in meinem ersten Jahr noch nicht zu, so viel Verantwortung zu übernehmen.
Liebe Grüsse
Semi

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Liebe/r Semi

Ganz wichtig bei älteren „Kindern“: Du bist das Leittier im Rudel.
Wenn du dich mit dem Gedanken nicht wohl fühlst, mit allen Pubertierchen in ein Lager zu gehen, dann ist das so.

Auf der anderen Seite wirst du keine bessere Belohnung finden, mit der du positives Verhalten hervorrufen und fördern kannst :wink:.
Du könntest den Lagerbesuch an Bedingungen knüpfen (Klassenpunkte, maximale Anzahl an Klassenbucheinträgen etc.) und das ganze als Klassenchallenge visualisieren.

Ausserdem könntest du dich auch mit einer/einem Kolleg:in zusammentun, um den Lagerbesuch gemeinsam anzuvisieren.

Anbei findest du noch mein Kriterienraster für mündliche Noten. Das Kriterienraster ist jedoch nicht „in Stein gemeisselt“ und wird von meinen Schüler:innen und mir nur zur Orientierung verwendet.
Anmerkung: In Deutschland ist eine 1 die beste Note und eine 6 die schlechteste. Du müsstest die Bewertung für deine Zwecke somit spiegeln.

Beste Grüsse
Philipp

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Lieber Philipp

Das ist natürlich eine Überlegung wert. Da müsste ich erst noch etwas meine Fühler ausstrecken, ob allenfalls andere Kolleg:innen interessiert wären.
Danke für das Raster, das kann ich auf jeden Fall brauchen.

Liebe Grüsse
Semi

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Liebe/r Semi
Ich klinke mich gerne in die Diskussion ein und ein herzliches Danke an Philipp für die wertvollen Tipps und Handreichungen. Du sprichst davon, dass du die Führung über die Klasse zurück gewinnen willst - das ist mit Arbeit und Durchsetzungsvermögen verbunden - unter dem Primat, dass du selbst authentisch bleibst und deine eigenen Grenzen dir klar sind und du weisst, wo dein Spielraum aufhört. Es ist immer eine Wechselwirkung - und für die Lernenden ist es zunächst ein Verlust, wenn sie ‚eroberte‘ Freiheiten wieder preisgeben müssen. Für sie muss deshalb ein ‚Gewinn‘ oder Mehrwert ersichtlich werden.
Ich habe gute Erfahrungen mit der Deklaration eines gemeinsamen Ziels gemacht, dass über die Schule hinausführt - was ist der Zweck, weshalb ihr hier seid? Was sind eure Wünsche und Träume? Was ist erforderlich, dass ihr diese Ziele erreichen könnt?
Ich als Lp und Coach kann euch hierbei begleiten, dass erfordert eure Kollaboration und hat einen Preis, im Sinne von Commitment bedeutet „Komm-mit“.
Deine Grenzen müssen klar definiert und ggf. auch zeitlich festgesetzt werden und sie sind nicht verhandelbar. Den Start mit 3 Regeln, wie Philipp schreibt, finde ich sehr zielführend. Wichtig erscheint mir auch, dass Lernende in eine Selbstreflexion zu ihrem Verhalten, zumindest wenn es deviant ist, geführt werden.
Ich will da ehrlich sein: Das ist Knochenarbeit, mit hohem Frustrationspotenzial und einem nicht zwingend sicherem Ziel.
Du begleitest junge Menschen in einer Zeit, in der (fast) alles deutlich wichtiger ist als Schule, deshalb würde ich versuchen, sie auf ein gemeinsames und individuelles Ziel zu gewinnen.
Ich gebe dir gerne noch einen Buchtipp: Ausgeflaust? - Jugendliche führen | hep Verlag
Das Buch liefert sehr praktische und strategische Umsetzungsvorschläge und kommt aus der Praxis.
Ferner besteht das Angebot der PHBern, dass du um ein Coaching anfragst - und wende dich offen an deine Kolleg:innen - Offenheit gegenüber schwierigen Situationen führt fast immer zu einer neuen Ebene von Zusammenarbeit, da wohl alle Lp diese Erfahrungen schon gemacht haben.
Ich wünsche dir gutes Gelingen.
Herzliche Grüsse
Marvin

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Lieber Marvin

Vielen Dank für den Literaturtipp!

Beste Grüsse
Philipp

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Lieber Marvin

Danke für deine hilfreiche Antwort. Mir ist bewusst, dass ich noch einiges an Arbeit vor mir habe, um „mein“ Terrain wieder breiter abzustecken. Ich bin bereits im Austausch mit Kolleg:innen und Vorgesetzten, was tatsächlich schon neue Türchen geöffnet hat.
Ich habe die Zügel auch nicht völlig aus der Hand gelassen, einfach wohl etwas zu locker. Die Devianz betrifft vor allem zwei Schüler. Hier könnte es tatsächlich zweckdienlich sein, gemeinsam mit ihnen herauszufinden, was ihre Ziele sind.
Danke für den Buchtipp. Genau nach so einem Buch habe ich gesucht.

Liebe Grüsse
Semi

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Hallo Semi
Ich habe sehr lange an verschiedenen Brückenangeboten des Kantons Bern gearbeitet und kann dir, so denke ich, einige wertvolle Tipps geben: Grundsätzlich hast du Jugendliche vor dir, die aus unterschiedlichen Gründen noch nicht in einer Ausbildung stehen. Oft ist der Grund genau der, den du voraussetzest: Die fehlende Eigenverantwortung. Diese vorauszusetzen, da diese Jugendlichen ja bald erwachsen sind, führt oft zu einer Überforderung. Eine klare Struktur und wenige, aber klar kommunizierte Regeln sind zu Beginn wichtig. Ebenso eine klare Anleitung dazu, was du von ihnen erwartetest. Du gibst ihnen Zeit, Ordnung zu schaffen. Ok, guter Ansatz, nur….wie macht man das denn überhaupt? Viele haben keinen Plan davon und laufen dir dann halt aus Überforderung aus dem Unterricht. Hier ist eine Schritt für Schritt Anleitung absolut notwendig. Themen wie: Wie organisiere ich mich? Wie strukturiere ich mich? Wie gehe ich mit Anforderungen, die an mich gestellt werden, um? Wie erreiche ich ein Ziel? Wie gehe ich mit Zurückweisung (Absagen im Bewerbungsprozess) um? Wie wirke ich?..…sind essentiell und ein grosser Bestandteil des 10. Schuljahres. Denn oft fehlt es nebst den fachlichen Lücken genau an diesen Kompetenzen. Diese persönlichkeitsbildenden Themen fand ich immer sehr spannend, aber es ist auch ein Knochenjob, denn hier ist eine grosse Beharrlichkeit und viel Geduld von deiner Seite her gefordert und der Ausgang ist manchmal auch ungewiss.
Ich hoffe, ich konnte dir ein wenig weiterhelfen!
Liebe Grüsse, Ziska

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Hallo Ziska

Danke für deine Antwort. Das sind gute Hinweise von dir. Ich habe bereits bemerkt, dass ich kleinschrittigere Anweisungen geben muss. Allerdings finde ich das gar nicht so einfach, weil ich mir selber zuerst überlegen muss, welches nun die Zwischenschritte einer Tätigkeit sind.

Liebe Grüsse

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Hi
Führungskompetenzen sind Tugenden, die man sich aneignen kann, ich selbst habe sie als Athlet, aber auch als Trainer im Leistungssport gelernt und angeeignet, und… perfektioniert.
Ob als Trainer, Lehrer, J+S Leiter ist ein klarer, wohlwollender aber bestimmter Führungsstil zu einem Erfolg unabdingbar.
Ich kann mich an den Zeilen von Ziska nur anschliessen.
Eigentlich, und ich erkläre es meinen SuS auch so, ist es wie auf einem Segeltörn, eine gute Mannschaft braucht einen guten Kapitän und wiederum der eine gute Mannschaft, es wird zusammen geplant, zusammen besprochen, ausgewertet und dann aber entscheidet der Kapitän die Strategie, einfach nur deshalb weil er den Auftrag, sprich dass Ziel kennt.
Ich beende den Unterricht immer mit einem Debriefing das sehr oft, sehr gut abschliesst, bin sehr offen mit meine SuS, rede zum Teil ihre Sprache, erkläre, fordere und fördere.
Manchmal gibt es Stürme, auf unserer Fahrt, wird es etwas hektisch, aber ich gebe nie das Kommando ab, schon deshalb nicht weil ich meiner Verantwortung bewusst bin.
Mein Ziel ist es, die „Fregatte“ sicher wieder an ihr Ziel zu steuern, mit einer Mannschaft, die stolz und zufrieden auf ihre Leistung sein kann, die etwas erlebt haben, aber vor allem reicher an Erfahrung (Schulstoff) sind.
Ich glaube man muss zuerst seine Ziele sehr hoch setzen, sich selbst kritisch gegenüber sein, immer wieder innovieren, und analysieren, und für seinen Job leben.

Ich freue mich immer wieder auf neue herausfordernde Mannschaften

Alain

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